Mein Medientagebuch


19. August 2020

Science-Fiction

Einen schönen Science-Fiction-Film habe ich heute gesehen, im 3. Bayerischen Fernsehprogramm. Ach, ich liiieeebe Science-Fiction!


Science-Fiction


Wenn Sie auf das Bild klicken, können Sie sich Ausschnitte ansehen. (mp4; 3 min., 7 sec.; 114 MB)

22. August 2020

Heute im Standard

Christopher Nolan und ich

Wegen der Corona-Krise kommt der neue Film von Christopher Nolan „Tenet“ verspätet um ein halbes Jahr jetzt erst ins Kino. Die Hommage an den klassischen Agentenfilm à la James Bond ist wahrscheinlich wieder hauptsächlich in den Farben Schwarz, Blau und Schwarzblau gehalten, wie es in Nolans Filmen immer der Fall und was auch der Grund dafür ist, dass ich seine Werke nicht unbedingt zu meinen Lieblingsfilmen zähle. Ich mag nämlich keine in Schwarzblau gehaltenen Blockbuster.

Aber wie da die Kritik des Standard anhob mit einer Anekdote aus seiner Jugend, die Nolan vor kurzem bei einer virtuellen Pressekonferenz zu „Tenet“ erzählt hat, da fühlte ich mich ihm doch plötzlich mehr denn je verbunden. Nachdem er 1977 mit seinem Vater den ersten James-Bond-Film im Kino gesehen hatte, hatte er nach seiner Schilderung damit begonnen, mit dessen Super-8-Kamera Filme mit seinen Actionfiguren zu drehen.


Mein Erstlingsfilm


Mein eigener allererster filmischer Gehversuch entstand nämlich ebenfalls - ich werde aber schon so etwa elf gewesen sein - genau auf diese Weise. Wenn Sie auf das obige Bild klicken, können Sie ihn sich ansehen. (mp4; 50 sec., 30 KB)

Leider kenne ich Nolans Jugendwerk nicht, (wenn es überhaupt noch erhalten ist,) aber in der Kritik zu seinem neuen Film heißt es dann weiter, bis heute würde er möglichst darauf verzichten, Filmbilder digital nachzubearbeiten. Eine weitere Parallele! Denn ich selbst habe sogar überhaupt noch nie Bildmaterial digital nachbearbeitet. Und ich war sogar noch puristischer: Nicht einmal die Stop-Motion-Technik, was ja durchaus das Nächstliegende und Übliche gewesen wäre, war in jenem meinem Erstlingswerk zum Einsatz gekommen. (Allerdings hatte jene Kamera meiner Eltern auch noch keine Einzelbild-Schaltung.)

Analog nachbearbeitet hatte ich aber sehr wohl, wie man hier sehen kann, und gleich von Anfang an, schon als Elfjähriger. Man beachte die händisch aufgebrachten Kratzer, als Leuchtspurmunitionsgarben-Special-Effect, im folgenden Standbild zu sehen in der rechten oberen Ecke:


Mein Erstlingswerk


Bis heute setzt sich Christopher Nolan, wie es in der Standard-Kritik weiter heißt, für den Erhalt der alterwürdigen Kinokultur ein und vor allem auch für die Rettung des analogen Materials als Filmbildträger. Ich aber habe es verkratzt, von Anfang an. Vielleicht ist es deshalb nichts geworden mit meiner Filmemacherkarriere.

23. August 2020

Heute im Fernsehen

100 Jahre Jedermann

Tobias Moretti ist der aktuelle Jedermann und Caroline Peters ist seine Buhlschaft, aber auch die früheren Jedermann-Darsteller Klaus Maria Brandauer, Peter Simonischek, Cornelius Obonya und Philipp Hochmair und andere Buhlschaften deklamierten heute an allen Ecken und Enden von Salzburg aus dem Stück, denn seit genau 100 Jahren wird dort die Rumpellyrik deklamiert, was natürlich gefeiert werden muss, und die Mimen können ja auch und gerade in diesen harten Corona-Zeiten das Geld sehr gut gebrauchen.

Unser Bundespräsident Alexander Van der Bellen musste die Vorstellung aus Repräsentationsgründen über sich ergehen lassen, sein deutsches Pendant Frank-Walter Steinmeier hingegen war freiwillig da und wie die anderen Laien und Kunstbanausen im Publikum von dem Gereime möglicherweise sogar angetan. Auch Peter Lohmeyer, Michael Masula, Pauline Knof und viele Prominente mehr wurden bei dem Jubiläumsgerumpel gesehen.

Viele waren natürlich in erster Linie zum Netzwerken oder Geschäfte vereinbaren da, also um zu sehen und gesehen zu werden, aber viele fahren auch nach 100 Jahren immer noch unbedarft nach Salzburg und erwarten sich vom Jedermann einen Kunstgenuss. Und die meisten von ihnen, so sie denn auch nur ein wenig Kunstgespür haben, sind dann regelmäßig nach der Vorstellung enttäuscht, (was seit nunmehr 100 Jahren in sämtlichen Medien konsequent verschwiegen wird,) und weil aber die Schulerziehung in Deutsch und speziell in Lyrik in Österreich und Deutschland so dürftig ist, wissen sie dann oft nicht, wo die dumpf polternde Leere herstammt in ihrem Kopf nach ihrem Besuch des Jedermann. Dem wenigstens kann und möchte ich hier abhelfen und es aufklären: Es kommt von der Rumpellyrik.

Ja, denn es gibt tatsächlich gute Reime, und es gibt schlechte Reime. Das ist keine Geschmackssache! Bis zu einem gewissen Grad lässt es sich recht gut objektivieren. Vor ein paar Jahren hatte ich, basierend auf Karl Kraus, ein Tutorial erstellt zum Verfassen guter Reime. Und auch der Jedermann kam in dem Video vor und lieferte zur Abschreckung die schlechten: -


Ansehen?

31. August 2020

Eine Buchbesprechung im Standard

„Eine neue Wirtschaft“

(von Johannes Gutmann, Robert Rogner und Josef Zotter; Edition A, Wien, 2020)

Selten genug passiert es, dass im Wirtschaftsteil des Standard ein Buch besprochen wird, aber ab und zu gibt es das eben doch, nämlich dann, wenn ein „Aktuelles Wirtschaftsbuch“, wie die entsprechende Rubrik betitelt ist, in der Wirtschaftsredaktion Aufmerksamkeit erregt.

Das „Aktuelle“ an diesem Wirtschaftsbuch ist vor allem: Es hat auch mit der Corona-Pandemie zu tun. Die Besprechung fällt ziemlich knapp aus und kann hier fast ungekürzt wiedergegeben werden: -

Irgendwie scheint den drei Unternehmern die Corona-Pandemie gerade recht zu kommen. […] Jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um von der Wachstumsdoktrin abzurücken, sind der Chocolatier, der Mitbegründer des Bogner Bad Blumau und der Kräuter- und Teespezialist (Sonnentor) überzeugt. Jetzt, nach dem Einbruch in nahezu allen Wirtschaftsbereichen, sei die richtige Zeit, um auf ein ökologisches, nachhaltiges Wirtschaftssystem umzustellen.

Wie selbiges im Detail aussehen soll, das ist auch nach Lektüre des Bandes nicht so ganz klar.

Warum wundert mich das nicht? -

Es werden eine Fülle von Initiativen und Alternativen angerissen, ein Gesamtkonzept steht aber nicht.

Das wäre auch zuviel verlangt. -

Klar ist für die drei aber, dass es so nicht weitergehen kann mit der „kapitalistischen Monsterwirtschaft“, die Bürger einzig als Konsumenten schätze. Konsum bringe kein Wachstum und werde deshalb auch den Planeten nicht retten.

Häh, wie jetzt? Ich dachte, die Autoren hielten die Zeit für gekommen, „von der Wachstumsdoktrin abzurücken“. Und jetzt werfen sie dem Konsum, ausgerechnet dem Konsum vor, dass er kein Wachstum bringen würde? -

Genau deshalb dürfe die Welt nicht zurückkehren auf den Pfad vor Corona. Denn der sei nicht nachhaltig, sondern zerstörerisch.

Genau deshalb also, weil der Konsum kein Wachstum bringen und weil er auch den Planeten nicht retten würde, dürfe man nicht auf den Pfad vor Corona zurückkehren, weil dieser, der Pfad, nicht nachhaltig, sondern zerstörerisch sei?

Da drängt sich nun allerdings schon die Frage auf, ob die Autoren tatsächlich so einen Unsinn zusammengeschrieben haben, und falls ja, warum ihnen damit die seltene Ehre einer Buchbesprechung auf den Wirtschaftsseiten des Standard zuteil geworden ist? Weiter: -

Kritisch sehen die drei übrigens auch die Green Economy und mit ihr den Green Deal, mit dem sich die EU aus der Krise hinausinvestieren will. Auch dieser setze auf Wachstum.

Und schwuppdiwupp lehnen die drei Autoren es wieder ab wie oben, das Wachstum, welches nicht zu erbringen sie zwischendurch „dem Konsum“ zum Vorwurf gemacht hatten. Auch die Green Economy, steht da jetzt also, setze auf Wachstum. -

Es brauche aber vielmehr sinnstiftende Arbeit und die Produktion von Qualität.

Und Schluss.

Dieses „Aktuelle Wirtschaftsbuch“ fordert also, kurz gesagt, statt Wachstum vielmehr (oder muss da nicht stehen: „viel mehr“?) sinnstiftende Arbeit und Qualitätsproduktion. Und hat es damit - ich kann meinem Erstaunen nicht genug Ausdruck geben! - zu einer der seltenen Besprechungen im Wirtschaftsteil des Standard gebracht! Wer hat das zu verantworten? Unterschrieben ist die Rezension mit: -

Luise Ungerboeck

Und dann steht da noch fett darunter, und das bedeutet, dass die Geschichte sogar noch weitergeht: -

Kommentar Seite 16

Der Aufzeiger

Ein Kommentar im Standard

Was bisher geschah: Drei Unternehmer hatten sich in einem gemeinsamen Buch Gedanken über „Eine neue Wirtschaft“ gemacht. Auch angesichts des Klimawandels könne es doch nicht immer so weitergehen mit dem ewigen Wachstumszwang der Wirtschaft. Irgendwie war ein Exemplar auch in der Wirtschaftsredaktion des Standard gelandet und von der freien Mitarbeiterin Luise Ungerboeck für eine Besprechung in der Rubrik „Das aktuelle Wirtschaftsbuch“ vorgeschlagen worden. -

„Also, gut. 1800 Anschläge. Geht sich das aus?“, bekommt sie zur Antwort. - „Das ist ein bisserl knapp“, merkt sie an. „Die Dekarbonisierung, die Rolle der Konsumenten und des Konsums, dann eine Fülle von Initiativen und Alternativen, aber noch nirgends ein schlüssiges Gesamtkonzept. Kritisch sehen die Autoren übrigens auch die Green Economy. Denn auch diese …“ - und dann wird es laut ausgesprochen, das böse, das kritische, das Stichwort für den „Aufzeiger“, wie er hier allgemein hinter vorgehaltener Hand genannt wird - „Auch die Green Economy beruht auf Wachstum.“ -

„Hat hier jemand etwas gegen das Wirtschaftswachstum gesagt?“ Eric Frey schreckt aus seinen Friedman-Studien hoch. Die Kollegen versuchen zu kalmieren: „Ein kleines Buch nur. Luise macht das schon. Es geht nur um 1800 Anschläge.“ -

„In einem Kommentar auf den Meinungsseiten werde ich aufzeigen, dass es illusorisch ist, eine Wirtschaft ohne Wachstum auch nur zu denken!“, ruft er in die Runde. Wieder hat er seinem Spitznamen alle Ehre gemacht. „Ich brauche dazu ebenfalls 1800, nein, ich verlange 2500 Anschläge!“ Schon lange wagt der Vehemenz des „Aufzeigers“ hier niemand mehr zu widersprechen.

Und so kam es, dass außer der knappen Buchbesprechung von Luise Ungerboeck in dieser Ausgabe auch ein relativ langatmiger Kommentar von Eric Frey zum Buch der drei Unternehmer erschienen ist.

Und wie es in diesen Fällen immer so seine Art ist, dramatisierte er darin wieder die angedachte nicht mehr wachsende zu einer schrumpfenden Wirtschaft, zeigte in seiner eigenwilligen Ökonomie mit der zugehörigen Terminologie auf, dass der Großteil des Wirtschaftswachstums heute nicht mehr in Form von Produktion und Konsum generiert würde, sondern in Form von (nicht produzierten und konsumierten?) „Dienstleistungen“.

Dann flocht er wie nebenbei die Nebelkerze und Themaverfehlung ein, dass eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, „wie sie nun vielfach gefordert wird, [von den Buchautoren aber wohl nicht?] den Arbeitslosen wenig nutzen, aber den Fachkräftemangel in wichtigen Branchen verschärfen“ würde.

Um nach der Abschweifung, die des Autors umfassende Kenntnisse signalisieren soll, wieder zum eigentlichen Thema zurückzukehren und abschließend noch die zwei Punkte aufzuzeigen, die er dann regelmäßig für seine besten Trumpfkarten hält: Ohne Wirtschaftswachstum, schreibt er dann immer, ließe sich nicht die Armut von „Milliarden von Menschen“ auf der Welt lindern, geschweige denn beseitigen, (wenn man von Umverteilung wie Eric Frey mal geflissentlich absieht,) und auch für die Klimawende bräuchte es - davon ist er ehrlich überzeugt, und immer wenn er es sagt, ist er auch selber wieder von der Größenordnung schwer beeindruckt - „Milliarden an Investitionen“. -

Der „Aufzeiger“ hat wieder aufgezeigt. In der Wirtschaftsredaktion des Standard ist man übereingekommen, ihm nun wirklich keinen Anlass mehr dazu zu liefern. In der Wirtschaftsredaktion des Standard wird nun die Denkbarkeit und Möglichkeit eines Wirtschaftens ohne Wachstum grundsätzlich nie mehr Erwähnung finden.

17. September 2020

Orbitantes und Exorbitantes

Fernsehdokumentarfilm

Vor zwei Wochen hatte ich den Dokumentarfilm über den Kunstmarkt gesehen: „Kunst für Millionen“ von Nathaniel Kahn, gesendet am 31. August im ORF.

Die schönsten Statements in dem Film, von Kunsthändlern, Sammlern und Kunstschaffenden, habe ich in einem eigenen Video versammelt und kommentiert: -


Orbitantes und Exorbitantes

Wenn Sie auf das Bild klicken, können Sie sich das ansehen. (mp4; 8 min., 19 sec.; 55 MB)

Katalogisieren, Drehbuch schreiben, Standbilder herausziehen, Kommentare einsprechen, Bild- und Tonmontage - warum habe ich mir das angetan?

Ich fühlte mich provoziert. Wegen der augenscheinlichen Bezugspunkte und Parallelen einerseits und der himmelschreienden Unterschiede andererseits zu meinem eigenen Werk „Vom Wert der Kunst“ aus dem Jahr 2014 fühlte ich mich dazu provoziert: -


Ansehen?

17. September 2020

Grölende Männerhorden

Fußballübertragung

Der TSV Hartberg spielt auf ORF Sport+ in Glivice um den Einzug in die Europa-League, parallel dazu gibt es auf dem deutschen Sender Sport1 das Spiel von Wolfsburg gegen den FK Kukesi.

Bei dem Wolfsburger Spiel hören wir die coachenden Trainer und die Kommunikation der Spieler auf dem Feld. Auch das Spiel in Polen findet coronabedingt vor leeren Rängen statt, aber das polnische Fernsehen belästigt uns mit einer darübergelegten Tonspur wie in alten Zeiten.

Dumpf grölende Männerhorden, sich stark fühlend und aufgehend im Erlebnis der Masse, unfähig, ein Fußballspiel zu genießen, solange nicht das eigene Team in Front liegt - es könnte einer der wenigen Pluspunkte an der Corona-Krise sein, dass uns das zur Zeit erspart bleibt. Aber nein, das polnische Fernsehen meint, die Kriegsgesänge gehören dazu und das müsse so sein.

(Sport-)Journalistisch betrachtet ist das der Todesstoß. Pure Fake-News sind das, präsentiert ganz ungeniert. Aber wo hört das auf? Kann man sich überhaupt noch sicher sein, dass Hartberg das Spiel wirklich verloren hat? Der österreichische Kommentator hatte während des Spiels halbkritisch und halbironisch die Frage gestellt, ob das polnische Fernsehen im Falle eines Hartberg-Sieges überhaupt auch Konserven von steirischen Schlachtgesängen vorrätig gehabt hätte?

Die polnischen Konserven jedenfalls - ich verstehe ja kaum Polnisch, aber sie kamen für mich als ein ganz besonders dumpf unartikuliertes und geistlos dahinrumpelndes Kriegsgeschrei rüber.

Und interessant fand ich es dann aber auch noch, wie in der zweiten Halbzeit die Motivation des zuständigen Mannes im Übertragungswagen spürbar nachgelassen hatte: Während der ersten war das unnötige Gegröle mehr oder weniger situationsbedingt an- und wieder abgeschwollen. In der zweiten war der Mann dann, glaube ich, öfter mal eine rauchen gegangen und gab es über weite Strecken nur noch ein ganz gleichmäßig dahinbrüllendes massenhaftes Gegröle.

20. September 2020

Superbusen

Roman von Paula Irmschler, Claassen, 2020

Gemeinhin lese ich nicht mehr viel Belletristik. Paula Irmschlers Roman war mir von einem Freund empfohlen worden, und mit seiner Vermutung, „Superbusen“ würde mir sicher gefallen, lag er ganz richtig.

Was macht einen guten Roman aus? Milieuschilderungen, Zeitbilder. Da wird das WG-Leben in den 1990-ern unaufgeregt, fast lapidar geschildert, in Zweck-WGs wie auch in den besseren. Ebenso die linke Politszene jener Zeit, Antifa-Plena, Aktionen, Demos, Diskussionen. Und dann auch noch die Gründung der titelgebenden (Frauen-)Band, das Leben im Proberaum, Auftritte, oft auch vor recht kleinem Publikum, manchmal auch vor größerem. „Genauso war's!“, war beim Lesen oft mein Gedanke, und entsprechend erschien es mir dann auch bei den Milieus, die mir nicht so vertraut waren, - wie zum Beispiel dem provinziellen ostdeutschen Schauplatz Chemnitz, auch damals schon naziverseucht, und wie man sich da als LinkeR oder AlternativeR an das alltägliche Übel gewöhnte und sich darin einrichtete und wie einer oder einem die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen wie nebenbei in Fleisch und Blut übergegangen waren - nicht weniger glaubhaft: „So wird es wohl gewesen sein.“

Die Milieuschilderungen einerseits, und zweitens die Entwicklungen machen einen guten Roman aus. Nachdem die junge Ich-Erzählerin aus Dresden weg und zum Studieren nicht wie die meisten nach Berlin, sondern eben nach Chemnitz gegangen ist, landet sie, in ihrer eigenen Rückschau noch recht naiv und unbedarft, in den erwähnten Studi-, WG- und Politszenen. Im zweiten Teil des Romans wird dann also die Frauenband mit dem selbstironischen (!?) Namen gegründet. Selbstermächtigung. Eigendefinition. Selbstbehauptung. Ich setze eine Passage hin: -

Wir [...] sprachen darüber, wie es so ist, als Frauen Musik zu machen. Superbusen hatten wenig Blödes erlebt, aber es waren bisher auch nur sehr kleine Konzerte mit wohlwollendem Publikum gewesen. Amanda, Maxi und Bahar hatten allerdings schon ziemlich viel Unfug mitgemacht, von paternalistischen Technikern über johlende Männer im Publikum, rassistische und sexistische Anzüglichkeiten seitens der Veranstalter bis hin zu normalen Übergriffen, denen Frauengruppen im Nachtleben ausgesetzt sind, war alles dabei. „Es ist immer so eine Sache“, erklärte Mentorin Amanda, mittlerweile leicht angesoffen, uns, die wir ihr lauschten und begeistert in Gedanken Notizen machten, „mit dem Selbstbewusstsein. Für viele Typen ist man arrogant, wenn man nicht bettelt und lieb fragt. So ist das auch auf der Bühne. Sobald man ganz selbstverständlich macht, was man machen will, halten die Leute einen für eingebildet und übergeschnappt. Dann muss die Frau wieder auf die Spur gebracht und in ihre Schranken verwiesen werden. Bei Männern ist es normal oder `gesundes Selbstbewusstsein´, von Frauen wird immer Bescheidenheit eingefordert. Sie sollen sich anstrengen für Aufmerksamkeit, aber bitte nicht zu sehr. Sie sollen ehrfürchtig sein, aber dabei nicht zu hilfsbedürftig wirken, dann nimmt man sie nicht ernst. Sie müssen den perfekten Spagat schaffen zwischen Stärke und Schwäche. Sie dürfen keine Opfer sein, aber auch nicht zu weit gehen.“ Alle nickten. Es ist ätzend, dass Frauen, wenn sie sich zusammenfinden, nicht drum herumkommen, diese Dinge zu thematisieren. Männerbands können sich ausschließlich auf ihre Musik konzentrieren.

Solcherlei Reflexionen rund um die fiktive Frauenband lassen sich natürlich fast bruchlos auf sämtliche sonstigen Berufsfelder, auf Fußballspielerinnen, Handwerkerinnen, Managerinnen, Politikerinnen etc. übertragen. Solch eine Relevanz der erzählten, historisch zurückliegenden Geschichte in Bezug auch auf heute drängende Probleme - das wäre ein dritter Punkt, was für mich einen guten Roman ausmacht. Indem sie ja erst einen Anlass gibt, ihn überhaupt zu schreiben, der über das plumpe Unterhaltungsgeschäft zu kommerziellen Zwecken hinausgeht. Und auch auf der unmittelbar politischen Ebene hat der Roman Aktualität, indem sich die geschilderte Zeitspanne bis zu den Vorgängen 2018 in Chemnitz erstreckt, mit den berüchtigten Nazijagden auf Ausländer, die dann aber laut dem damaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen keine waren, woraufhin er für seine amtliche Verharmlosung auf einen besser dotierten Job weggelobt worden war.

Und dann wird der Roman, als wäre das noch nicht genug, in diesem dritten, im heute angesiedelten Teil, auch noch auf sehr eindringliche Weise … ich sage mal: persönlich. Ich will nicht zuviel spoilern und verrate nur soviel: Die Ich-Erzählerin muss feststellen, dass es die Gemeinschaftserlebnisse und kollektiven Strukturen wie seinerzeit in den WGs, in der Polit- und der Musikszene - nur für sie? - heute kaum noch gibt. Sie ist auf sich selbst geworfen, was einerseits bitter ist und was sie andererseits aber auch dazu zwingt, sich mit bestimmten Fragen noch einmal unmittelbarer zu konfrontieren.

Ein ganz feiner, ein vielschichtiger Roman. Sehr zu empfehlen!

30. September 2020

Trump vs. Biden

Fernsehduell

Zur Primetime hatte ich mir gestern abend im ORF die drei Zweierduelle von Kandidaten zur anstehenden Wiener Wahl angeschaut. Für nachts war dann das erste Fernsehduell zwischen Trump und Biden angekündigt. Da habe ich mir natürlich - obgleich ich weder hier noch dort wählend mitwirken kann - den Wecker gestellt, weil nicht wahlberechtigt zu sein ja nicht gleichbedeutend ist mit sich für die Politik hier und in der weiten Welt nicht zu interessieren.


Fernsehduell

Wenn Sie auf meinen Handy-Wecker klicken, können Sie sich eine Auswahl aus dem Fernsehduell zu Gemüte führen. Eine Auswahl aus den ersten 20 Minuten der Sendung, um genau zu sein. Denn länger war das Gezeter und Gewäsch beim besten Willen nicht zu ertragen.
(MP4; 4 min., 17 sec.; 19 MB)

02. Oktober 2020

Wen soll ich wählen?

Wahlkampagnen auf YouTube

Das unsägliche US-amerikanische Fernsehduell Trump vs. Biden hatte wenigstens doch auch den tröstlichen Effekt, dass mir die hiesige politische Kultur danach plötzlich äußerst gepflegt, zivilisiert und veranwortungsbewusst vorgekommen war. Das war natürlich bis zu einem gewissen Grad ein Trugbild. Denn wenn in einer heutigen Metropole wie in Wien circa ein Drittel der BewohnerInnen gar nicht das Recht haben, wählen zu gehen, (nur weil sie keinen österreichischen Pass haben,) dann kann man von einer hohen oder gar vorbildlichen demokratischen Kultur hier ebenfalls nicht reden.

Als EU-Ausländer darf ich aber ja wenigstens noch, wenn auch nicht das Landesparlament, so doch in meinem Bezirk mitwählen, und dieses habe ich dann gestern per Briefwahl schon einmal erledigt.

Morgens wusste ich ehrlich gesagt noch gar nicht so genau, wer da in meinem Grätzel so alles zur Wahl stand. Ich hatte das aber flugs gegoogelt und herausbekommen, und ernsthaft in Frage kamen da für mich - denn ich helfe ja immer zu den Kleinen und Schwachen, freilich immer auch noch vorausgesetzt, sie sind nicht außer klein und schwach auch noch schwer deppert - in Frage also kamen da für mich nur zwei Parteien: Die Liste „LINKS“ und die „Bierpartei“. Und so studierte ich also die Programme der beiden Parteien, und als weitere Entscheidungshilfe trieb ich mich dann noch in den sozialen Medien herum, konkret bei den Wahlkampfauftritten der beiden Parteien auf YouTube, und da gab es bei den beiden Parteien doch sehr große Unterschiede.

Auf der YouTube-Wahlkampfseite von „LINKS“ befinden sich überhaupt nur genau zwei Videos. Nämlich dieses hier: -

… und zweitens noch dieses: -

Der Wahlspot, in dem Michael Häupl angeblich dazu aufruft, „LINKS“ zu wählen, ist so unverschämt simpel manipuliert, dass es eigentlich fast schon wieder gut ist. Am allerbesten daran ist allerdings, dass er nach nur 19 Sekunden auch schon wieder vorbei ist. Während das zweite Video, jenes vom Wahlkampfauftakt der „LINKS“-Partei, dann so ziemlich ins andere Extrem verfällt und doch schon die Geduld mit seinen dreieinhalb Stunden Dauer ein bisschen strapaziert.

Auf der YouTube-Seite der „Bierpartei“ hingegen finden sich so ungefähr gefühlte 2000 Videos, und von wegen der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit möchte ich aber ebenfalls, wie oben bei der „LINKS“-Partei, nur die zwei besten Videos auf der Seite, (jedenfalls nach meinem Geschmack,) hier einbetten: -

Die Wahlkampf-„Rede zur Lage der Nation“ fand ich hübsch skurril, und zweitens habe ich noch eines der zahlreichen gut gemachten Musikvideos, die es auf der „Bierpartei“-Seite ebenfalls gibt, ausgewählt: -

Zu den vielen Videos auf der Seite der „Bierpartei“ bleibt noch anzumerken, dass sie alle, wie Sie sicher schon bemerkt haben, von kommerzieller Werbung flankiert und zugeschissen werden, ein Ärgernis, das es bei dem „LINKS“-Wahlkampfauftritt nicht gibt. Und abschließend möchte ich noch erwähnen, dass der Spitzenkandidat der „Bierpartei“ übrigens auch in mehreren Videos beim Fellner und seinem Krawallsender OE24 eingeladen und zu Gast war. Welch zweifelhafte Ehre der „LINKS“-Partei nun also nicht widerfahren ist und von ihr wohl auch kaum angestrebt worden sein dürfte.

Mehr sage ich nicht. Welchen der beiden YouTube-Partei-Auftritte ich ansprechender, witziger, professioneller gemacht fand, verrate ich nicht, und ebensowenig, was ich dann letztlich gewählt habe. Das bleibt doch wohl besser mein Wahlgeheimnis.

03. Oktober 2020

Herr Schuh, Frau Engelke und der Tod

Ein Fernsehessay und eine Netflix-Serie

Müssen Beerdigungsfeiern immer traurig sein? Für wen werden sie eigentlich abgehalten? - Für die Verstorbenen ja wohl nicht. Dann doch wohl eher für die Hinterbliebenen.

Oder: Warum werden die Leichen geschminkt, hergerichtet, schön gemacht, auch wenn manche im Leben noch nie so schön ausgesehen haben? Oder: Wie ist es und was macht es mit einem oder einer, wenn man beruflich tagtäglich mit dem Tod zu tun bekommt?

Oder auch: Wenn man ja in der Erinnerung der Hinterbliebenen sprichwörtlich „weiter lebt“, kann man dann vielleicht sogar mit Fug und Recht von einem Leben nach dem Tod, wenn auch mit Ablaufdatum, sprechen? Und auch, ganz generell: Da ihm ja niemand auskommt, ist der Tod ein großer Gleichmacher. Rührt die Angst vor ihm dann aber vielleicht daher, dass er so gleich macht, indem er ständig ganz unvergleichliche, einzigartige Individuen aus ihrem Umfeld reißt? Kann man, soll man, muss man ihn dafür hassen?

Oder auch, andersherum: Erst die Endlichkeit des Lebens macht es doch so richtig … ja, wie sagt man? Wertvoll? Aufregend? Staunens-, lebenswert?

Viele Fragen ranken sich um das oft weggedrängte Thema Tod. Franz Schuh ist Philosoph und dazu noch Wiener und also gleich doppelt ein Fachmann in der Materie. Für die ORF-Sendereihe „kreuz & quer“, die sich, meist angenehm undogmatisch, mit Glaubensfragen in einem ebenso angenehm weiten Sinne befasst, hat er sich mit Leuten aus der Bestattungsbranche getroffen, Anatomieinstitute besucht, Beerdigungen beobachtet und mit Hinterbliebenen gesprochen. Und er hat sich, als persönlich Betroffener wie auch aus der Warte des Philosophen (und natürlich auch des Wieners) in dem Filmessay Gedanken über den Tod gemacht. (Regie: Florian Gebauer; gesendet am 29. September im ORF.)

Franz Schuh und der Tod

Das war wieder so tiefgründig, erhellend und vielschichtig, wie wir es von ihm kennen. (Der Filmessay ist noch für einige Zeit in der ORF-TVthek abrufbar.)

Ob Franz Schuh und der Regisseur Gebauer sich, so wie ich, auch die andere, thematisch sehr ähnliche neue Fernsehproduktion zum Thema Tod zu Gemüte geführt haben? Anke Engelke war mit ihrer Miniserie „Das letzte Wort“ für Netflix sogar ein bisschen schneller am Markt. (Die Serie ist seit ein paar Wochen abrufbar.)

Anke Engelke und der Tod

Die Handlung der sechs mal 45 Minuten dauernden Spielfilmserie ist so ungefähr die folgende: In Folge des plötzlichen und unerwarteten Todes ihres Lebenspartners entdeckt die von Engelke gespielte Protagonistin ihr Talent - für Trauerreden. Es wird dann ihre persönliche Art von Trauerarbeit, in einem Beerdigungsinstitut als professionelle Trauerrednerin anzuheuern. Wir bekommen überraschende, absurde oder auch die dem kommerziellen Rahmen geschuldeten, das große Thema unweigerlich banalisierende Einblicke in den Alltag der Branche. Wir erleben traditionelle Begräbnisse, und die Tradition aufhebende und überwindende. Wieder sind wir beim Schminken, Herrichten, Schönmachen der Leichen zugegen. In einer Episode will ein Todkranker genauestens über die Planung seiner Beerdigung Bescheid wissen und mitbestimmen. Und Anke Engelke weist dieses sein Anliegen irgendwann in die Schranken, indem sie, wie auch Franz Schuh, darauf hinweist, dass Beerdigungen nicht für die Verstorbenen ausgerichtet werden, sondern für die Hinterbliebenen.

Und das sind nur einige der zahlreichen inhaltlichen Parallelen in den beiden Produktionen. Die Unterschiede kann man sich ja wohl auch leicht ausmalen. Geschliffene philosophische Gedanken in dem Essay mit Franz Schuh - in der Spielfilmserie eher ergebnisoffene Anstöße zum eigenen Nachdenken über verschiedene Facetten rund um das Thema Tod.

Zum Schmunzeln und auch Lachen gibt es in beiden Produktionen mehr, als man sich bei dem Thema vielleicht erwarten würde. Und zusammenfassend könnte ich nicht sagen, dass eine der beiden Produktionen nun die klar bessere gewesen wäre. Es geht hier ja auch nicht um einen Wettbewerb. Aus zwei völlig verschiedenen Richtungen kommend haben sich die beiden Fernsehproduktionen vielmehr ganz hervorragend gegenseitig ergänzt.

Nur ein kritisches Wort noch zur ORF-Produktion mit Franz Schuh: Mit dem Geigengefidel-Soundtrack und dergleichen wurde das Klischee von der Wiener schönen Leich für meinen Geschmack doch schon a bisserl überstrapaziert. Das war natürlich auch nicht anders zu erwarten. Die schön vielschichtige Spielfilmserie mit Anke Engelke zu dem gewiss nicht leichten Thema Tod hingegen - die kam für mich ganz unerwartet.

06. Oktober 2020

Von Vätern und Söhnen -
Die Kinder des Kalifats

Fernsehtipp:
Heute im ORF /
eine Leih-DVD aus der Bibliothek

Heute abend bei „kreuz & quer“ im ORF: „Von Vätern und Söhnen - Die Kinder des Kalifats“.

Der vielfach preisgekrönte Film lag seit einiger Zeit als Leih-DVD aus der Stadtbibliothek bei mir zuhause und harrte einer angemessenen Besprechung. Der Film ist wirklich sehr zu empfehlen! Schauen Sie ihn sich an!


Die Kinder des Kalifats

Wenn Sie auf das Bild klicken, können Sie sich eine Vorbesprechung und meine Gedanken zu dem Film anhören. (mp3; 7 min., 39 sec.)

Nachtrag

Die Zähne gezogen

Zur Kurzversion von „Die Kinder des Kalifats“ bei „kreuz & quer“ im ORF

Wenn Sie sich den Film auf meine Empfehlung hin angesehen haben, wundern Sie sich vielleicht, warum ich ihn so überschwänglich gelobt hatte.


Anhören?

Gesendet wurde da eine um die Hälfte gekürzte Fernsehfassung. Aber wie sie gekürzt war, da habe ich mich auch selbst nur wundern können. Dem Film ging so alle Brisanz und Schärfe verloren! Wie kommt solch eine zahnlose Version zustande? Wenn Sie auf das Bild klicken, dann können Sie sich meine Überlegungen dazu anhören. (mp3; 10 min., 31 sec.; 9,6 MB)

13. Oktober 2020

Wir danken den Magistratsbeamten

Wahlberichterstattung im ORF

Die Wienwahl ist geschlagen. Eine erste Prognose, Besuche und Interviews in den Parteizentralen und dann die erste Hochrechnung im Fernsehen, und der Audiorecorder lief dabei mit.

Anhören?

Wenn Sie möchten, können Sie sich meine Collage aus den Fernsehtönen, sparsam live kommentiert, gerne anhören.
(MP3; 9 min., 42 sec.; 8,9 MB)

14. Oktober 2020

Die Deppenfamilie

Wann kommt die Soap?

Manche Familien, die sind so kreuzdämlich, dass sie nicht mal zum Sympathie- oder selbst zum Werbeträger nicht zu gebrauchen sind.

Deppenfamilie kennenlernen?

Ein Beispiel gefällig? Dann klicken Sie bitte auf die Grafik!
(MP4; 27 sec.; 14 MB)

19. Oktober 2020

Was nicht mehr im Duden steht

Eine Sprach- und Kulturgeschichte von Peter Graf, Dudenverlag Berlin, 2018

In der Regel ziehe ich Sachbücher der Belletristik vor. Etwas dazuzulernen kann ja nie schaden. Ich würde sogar sagen, es müsste ein Ziel sein, ein Leben lang. Gut geschrieben sollten sie sein, die Sachbücher. Und wenn es im Zuge des Erkenntnisgewinns auch noch etwas zu lachen gibt - umso besser. Dies alles ist in Peter Grafs Sprach- und Kulturgeschichte der Fall.

In der Einleitung erfahren wir, wie die Dudenredaktion vorgeht: Da wird im ersten Schritt der sogenannte „Duden-Korpus“ aus hunderten von Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Arbeiten und zum Teil auch ziemlich randständigen Publikationen auf das Auftauchen von neuen Wörtern hin durchforstet. Im zweiten Schritt wird dann abgeglichen, ob diese neuen Wörter auch den Weg in die Alltagssprache, sprich: in die Journalistik und Literatur gefunden haben. Ist dies der Fall, dann finden sie Aufnahme in den Duden.

Umgekehrt gibt es auch Wörter - ja, die Sprache lebt! - die aus verschiedenen Gründen mit der Zeit in der Alltagssprache kaum noch oder gar nicht mehr verwendet werden. In diesen Fällen wird in der Dudenredaktion diskutiert. Je nach Einschätzung wird diesen Stichworten dann zuerst die Anmerkung „veraltend“ beigefügt, dann eventuell noch das akutere „veraltet“, sozusagen als letzte Warnung, bevor sie dann endgültig (oder in seltenen Fällen auch nur vorübergehend und bis zu ihrer alltagssprachlichen Renaissance) aus dem Duden wieder verschwinden.

Peter Graf hat sich also diese veralteten Wörter angesehen und sie in Bereiche eingeteilt. Zu den verschiedenen Gründen, warum Wörter aus der Alltagssprache verschwinden, gibt es in dem Buch 20 hübsche, kleine Essays, jeweils garniert mit einer Auswahl aus den schönsten aus dem Duden verschwundenen Wortbespielen aus den jeweiligen Bereichen.

Bei den Kapiteln zu Wissenschaft, Technik und Handwerk oder auch bei der Militärgeschichte (aber auch der Mode) ist die Sache relativ einfach und klar. Dort fallen viele Wörter schlicht einem technischen Fortschritt (beziehungsweise Verdikt des Altmodischen) zum Opfer. In diesen Bereichen läuft es schlicht mal kurios, mal süß nostalgisch nach dem Schema der beliebten Fernsehfeuilletons unter dem Titel „Das war dann mal weg“ …

Hier bleibt das Buch aber nicht stehen. Wirklich interessant wird es bei den Essays zu den großen geschichtlichen Einschnitten in der über 100-jährigen Geschichte des Dudens. In der Nazizeit hatte der Duden in mehreren Ausgaben die lingua tertii imperii sowohl abgebildet als trug er dadurch natürlich auch zu ihrer Durchsetzung bei. Und nach dem Ende der Naziherrschaft werden zwar viele Ausdrücke aus der „Sprache des Dritten Reiches“ kaum oder gar nicht mehr in der Alltagssprache benutzt und entsprechend aus dem Duden entfernt, aber durchaus auch beileibe nicht alle! So manches Wort, das in der Nazizeit Eingang in den Duden gefunden hatte, war dort noch Jahrzehnte danach oder ist dort selbst heute noch zu finden - Gedankengut aus der Zeit des Nationalsozialismus, das in der Sprache weiter west.

Ein einziges kleines Manko an Grafs sprach- und kulturhistorischer Arbeit anhand der im Duden gestrichenen Wörter zeigt sich auch beim anderen großen geschichtlichen Bruch, als der Duden in zwei Redaktionen geteilt war zwischen einer Ausgabe in der DDR und einer in der BRD: Es fehlt mir eine Untersuchung oder Bewertung, inwieweit die Dudenredaktionen auch in diesen Zeiten den Sprachgebrauch im wesentlichen nur wie üblich abgezählt und also getreulich abgebildet oder ob sie damals doch schon auch mehr auf politisch interessierte Einflüsterungen gehört hatten. Für letzteres spricht zum Beispiel, dass in den Dudenausgaben der Nazizeit offensichtlich viele Fremdwörter getilgt und durch teils ziemlich sperrige und ungelenke Eindeutschungen ersetzt worden waren, von denen kaum vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich zählbar in der Alltagssprache durchgesetzt hatten. Solch ein Absatz fehlt mir da: Gab es zu solchen Zeiten ein gezieltes „Programm zur Reinigung der Sprache von den Fremdwörtern“, und wenn ja, wie lief das ab? Wer ordnete das in der Nazizeit an oder wer setzte es um, dass es im Duden in den 1940-er Jahren nur noch „Spielleiter“ gab und nicht mehr „Regisseure“? Oder hatte sich das tatsächlich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt und war auch in dieser Zeit vom Duden nur getreulich abgebildet?

Denn heute jedenfalls, das wird Graf nicht müde zu betonen, hört die Dudenredaktion nicht (mehr?) auf politisch interessierte Einflüsterungen. Sie zählt ab und bildet getreulich ab. Diverse Versuche, einzuflüstern, gibt es da immer wieder bis heute, auch und gerade und weiterhin auch von Seiten der selbsternannten Sprachreiniger. Im Kapitel über die Anglizismen, die angeblich die deutsche Sprache überfluten, hält Graf mit nachzählbaren Fakten dagegen: Die Quote an Fremd- und Lehnwörtern aus dem Englischen sei über all die Jahrzehnte im Duden von geringen Schwankungen abgesehen immer nahezu gleich geblieben. Der eine Anglizismus verschwindet also, ein anderer kommt stattdessen hinzu. Es ist wie mit den Fremdwörtern und Entlehnungen auch aus anderen Sprachen. Immer schon haben die Einflüsse von Nachbarn und aus aller Welt sämtliche lebendige Sprachen modifiziert und bereichert. Die Alarmrufe der Sprachreiniger vor einer Überflutung des Deutschen durch die Anglizismen sind sowohl faktisch unberechtigt als auch der Sache ungemäß als auch in der Praxis vergebens.

Zu den beiden Kapiteln über die aus dem Duden entfernten Wörter aus dem kolonialen Kontext und aus dem Themenfeld um die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Emanzipation der Frauen möchte ich nur kurz anmerken, dass sie beide absolut state of the art sind. Das erstere enthält Verweise bis hin zu den jüngsten Debatten um die geforderte Restitution von geraubten Kulturgütern an afrikanische Museen und auch um die Anerkennung des Völkermords an den Herero und die Forderung nach Wiedergutmachung; das zweitere ist mit dem Bezug zur „MeToo-Debatte“ der letzten Jahre ebenso auf dem neuesten Stand. Das sind brandaktuelle Bezüge, die ich in einem Werk, das sich zuvörderst (populär-)wissenschaftlich mit Sprache befasst, nicht unbedingt erwartet hätte.

Aber ich hatte anfangs geteasert und zur Lektüre des vorliegenden Textes locken wollen, indem ich sagte, es gebe in dem Buch auch viel Amüsantes. Dieser Aspekt kam wohl bis jetzt in meiner Besprechung etwas zu kurz. Drum auch in diese Richtung zum Schluss noch ein paar Beispiele.

Ein solcher Kek ist zum Beispiel die Anekdote um die Keks. Als sie Eingang in den Duden fanden, war der Begriff dort etymologisch erläutert. Keks leite sich her vom englischen „cakes“ (Kuchen) und sei somit ein Wort im Plural, und entsprechend müsse es dann korrekt lauten: „Bitte gib mir einen Kek!“ Bekanntlich hat sich dieser Kekgebrauch nicht durchgesetzt, und so beugte sich die Dudenredaktion schließlich dem Sprachgefühl und Sprachgebrauch des Schwarms und hat die zwar etymologisch korrekte, aber schon von Anfang an auch ziemlich besserwisserische Sprechanordnung gestrichen. Das ist doch amüsant, dies unvermeidliche Changieren zwischen exakter Sprachwissenschaft und nacktem Pragmatismus im Umgang mit der lebendigen Sprachentwicklung, ist es nicht?

Vom Kapitel über die veralteten Schimpfwörter war ich - leidenschaftlicher Sammler von Schimpfwörtern, der ich bin - zuerst sogar ein wenig enttäuscht. Bis ich mir wieder die strengen Kriterien vor Augen führte, die erfüllt sein müssen, damit solch ein Schimpfwort es (besonders hier in aller Regel: nur für eine gewisse Zeit) in den Duden schafft. Da haben es die Maledicta naturgemäß nicht leicht. Immerhin konnte ich meiner Schimpfwörtersammlung dann aber doch ein paar hübsch glitzernde Perlen wie den Arschmonarch, das Bratwurstmaul, den Hosentrompeter oder die Insectenseele beigesellen.

Mein Lieblingswort aus dem Buch mit den veralteten Wörtern - um zum Schluss zu kommen - ist aber das „Zugemüse“. Was früher Zugemüse hieß, heißt heute „Gemüsebeilage“. Gerade auch in Zeiten der weitverbreiteten ökologisch motivierten oder mit der leidenden Kreatur mitfühlen wollenden Fleischgenusskritik, finde ich, beharrt das „Zugemüse“ sprachlich weit entschlossener auf der faktischen Hierarchie unterschiedlich wertiger Lebensmittel als es bei einer beiläufig daherkommenden „Gemüsebeilage“ je mitklingen könnte.

Nach einer fleischlichen Mahlzeit demnächst einmal auf die Frage, ob es mir geschmeckt hat, wider alle Konventionen zu bemängeln: „Zuviel Zugemüse!“ - das habe ich mir fest vorgenommen. Das Zugemüse gibt es aber auch noch in einem übertragenen Sinn. Der metaphorische Gebrauch des Wortes ist ebenfalls in mehreren Ausgaben des Dudens historisch belegt. Und so fand es dann sogar auch noch Eingang in meine Schimpfwörtersammlung. Es gibt nämlich auch Personen, von denen man sagen kann, sie sind zu jeder prächtigen Festivität oder geistvollen Tischgesellschaft nur das Zugemüse.

26. Oktober 2020

Nicht jugendfrei

Eines meiner YouTube-Videos wurde gemeldet

YouTube schickt mir eine E-Mail: -

Hallo Victor Halb,
In unseren Community-Richtlinien wird beschrieben, welche Inhalte auf YouTube erlaubt sind und welche nicht. Dein Video „I Fucking Love Youtube!“ wurde zur Überprüfung gemeldet. Bei der Überprüfung haben wir festgestellt, dass dein Video möglicherweise nicht für alle Zuschauer geeignet ist. Deshalb haben wir dieses Video mit einer Altersbeschränkung versehen. […]
Wenn du der Meinung bist, dass es sich um einen Fehler handelt, setze dich mit uns in Verbindung. Um Beschwerde gegen die Altersbeschränkung einzulegen, reiche dieses
[verlinkte] Formular ein. Unser Team wird deine Beschwerde bearbeiten und sich in Kürze bei dir melden.
Viele Grüße
Das YouTube-Team

Eine Beschwerde habe ich nicht eingelegt. Solch eine Hürde, an der man erst nachzuweisen hat, dass man schon volljährig ist, bevor man in den Genuss der zu erwartenden prickelnden Erotik oder brechreizerregenden Gewaltdarstellungen kommen kann, erhöht ja doch sicher den Anreiz gerade auch bei meiner jugendlichen Zielgruppe, nach Wegen zu suchen, sie zu umgehen. Das ist ein Werbeeffekt, den der Streifen mit seinen gerade mal 200 und ein paar Zugriffen nach viereinhalb Jahren ziemlich gut gebrauchen kann.

(Ach, bei den Zugriffszahlen auf YouTube, sehe ich gerade, geschehen doch immer wieder Zeichen und Wunder: Vor ein paar Tagen, als ich die E-Mail bekommen hatte, hatte ich mir das angesehen, wie die Sperrung des Videos für Minderjährige jetzt aussieht, und da hatte es noch immerhin - ich schwör's! - 200 und ein paar Zugriffe. Aber jetzt eben, als ich die genaue Zahl eruieren wollte, waren es nur noch 118 …)

Keine Beschwerde also, und auf die E-Mail antworten werde ich auch nur exklusiv hier in meinem Medientagebuch, und zwar das folgende: -

Hallo YouTube-Trotteln,

mein Video wurde „zur Überprüfung gemeldet“? Ja, aber von wem denn bloß? Das muss ja wirklich ein Volltrottel sein! - Ach so, das war nur die Trefferanzeige von einem eurer hochgeheim konstruierten Algorithmen, und zwar wegen des Wortes „Fucking“ im Titel? Ach so, na ja dann, ich verstehe. Das leuchtet natürlich ein. Aber dann hättet ihr das natürlich auch so schreiben können, dass da so ein tendenziell immer kreuzdummer Algorithmus einen Alarm ausgelöst hat, anstatt so wischiwaschi zu formulieren, dass jemand „mein Video zur Überprüfung gemeldet“ haben soll.

„Bei der Überprüfung“, schreibt ihr dann weiter, hättet ihr festgestellt, dass mein „Video möglicherweise nicht für alle Zuschauer geeignet ist“, und deshalb hättet ihr es mit einer Altersbeschränkung versehen. Bei dieser sogenannten „Überprüfung“ wäre ich wirklich gerne dabei gewesen. Und ich frage mich übrigens auch, ob wohl der Meldealgorithmus so lahmarschig war, dass er sich erst nach ein paar Jahren zu seiner Meldung hat entschließen können, oder ob jetzt eure „Überprüfung“ der Meldung dermaßen gründlich war, dass sie erst nach ein paar Jahren zu einem Abschluss gekommen ist.

Was mich schon sehr erstaunen würde. An dieser Stelle könnte ich jetzt auch meine LeserInnen einladen, selbst zu überprüfen, ob die Altersbeschränkung für das Video wohl berechtigt ist: -


Ansehen?

Zum Ansehen des inkriminierten Videos klicken Sie bitte auf das Bild!

Zur Überprüfung, ob die Altersbeschränkung für das Video angemessen ist, genügt doch wirklich auch schon ein einmaliges Anschauen, oder? Dazu bedarf es doch wirklich nicht mehrerer Jahre.

Ich weiß schon, was ihr jetzt antworten werdet: Eure sogenannte „Überprüfung“ hat natürlich ebenfalls wieder so ein vollautomatischer Algorithmus vorgenommen. Und blitzgescheit konnte er bestätigen, was der erstere zur Meldung gebracht hatte: Es gibt da tatsächlich das sexuell konnotierte Wort “Fucking“ im Titel.

Und dieses nun glaube ich euch aber genau nicht! Nein, ich denke, dass da sehr wohl ein leibhaftiger Mensch überprüft und die Altersbeschränkung mit entsprechender E-Mail an mich abgesegnet (und dann auch noch den Zugriffszähler ein bisschen zurückgedreht) hat.

Weil, unter uns gesagt, YouTube-Trotteln: Wir wissen doch beide, dass es euch ungeheuer nervt, dass ich immer noch die früher noch viel leichter zugängliche Option angeschaltet habe, mit der ich die Zustimmung zur „Monetarisierung“ meiner YouTube-Videos, sprich: ihr Zuscheißen mit und Ausschlachten zum Zwecke der Werbung verweigere. Entsprechend könnt ihr mit meinen Videos nicht viel verdienen; entsprechend werden sie von euch nicht oft empfohlen und bekommen sie in der Regel wenige Zugriffe. Und deshalb, und nur deshalb bekomme ich von euch auch immer wieder einmal so seltsame Bedenken und Einsprüche zugeschickt. Deshalb, und nur deshalb werden von euch dann auch, wenn ich mal einen sog. Erfolg auf YouTube haben könnte wie bei meinem Allzeit-Bestclicker „Visitez le Benin!“ zum Beispiel, von euch die Zugriffszahlen heruntermanipuliert. Bei diesem Video stagnierten sie mal für ungefähr zwei oder drei Wochen lang bei exakt 4999 …

Langer Rede kurzer Sinn: Jedes Kleinkind sieht sofort, dass es sich bei dem inkriminierten Video nicht um Pornografie, sondern um eine YouTube- und kommerzkritische Satire handelt. Und weil ich dem kommerzverseuchten Umfeld auf YouTube kritisch gegenüber stehe, verweigere ich auch weiter, (solange es noch geht,) die sog. „Monetarisierung“ meiner dort hochgeladenen Videos. Wenn ihr mir dann als Druckmittel solche E-Mails schickt oder als Retourkutsche meine eh meist geringen Zugriffszahlen noch weiter heruntermanipuliert, dann ist mir das völlig wurscht.

Denn erstens kann ich auf ZuschauerInnen von der Art, dass sie meine Videos zuvörderst deshalb anklicken, weil schon viele andere dies zuvor getan haben, gut verzichten. Und zweitens stimmen diese Zahlen ja eh nie. Es ist ja auch allgemein bekannt, dass die ersten paar tausend oder zehntausend Clicks, wenn etwa ein neuer Popsong lanciert werden soll, regelmäßig Fakes und von der Musikindustrie bei euch oder euch nahestehenden Agenturen gekauft und bezahlt werden.

14. November 2020

Die Wiener SPÖ koaliert mit den Neos

Zeit für den Klassiker

In ein paar Tagen soll das Koalitionsübereinkommen zwischen der SPÖ und den Neos in Wien ausverhandelt sein. Die SPÖ geht also mit den (zugegebenermaßen einigermaßen gut verkleideten) Neoliberalen zusammen. Geschichtsvergessen schießt sie sich, nachdem sie den Grünen aus ganz kurzsichtigen machtpolitischen Gründen den Laufpass gegeben hat, mal wieder selbst ins Knie. Da wird es wohl Zeit, den Gedicht-Klassiker mal wieder aus dem Archiv zu holen: -

Wer hat uns verraten?
Sozialdemokraten.
Wer verrät uns nie?
Die Pandemie!

19. November 2020

Kriege im Windschatten

Berg Karabach und Äthiopien

Im Windschatten der Corona-Pandemie fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ist der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan zugunsten der ungleich besser ausgerüsteten Aserbaidschaner zu Ende gegangen. Sie waren offenbar von der Türkei massiv mit Drohnen ausgestattet worden und die Armenier hatten dagegen keine militärischen Mittel. Man kann davon ausgehen, dass sich die Türkei die wertvollen, im Gefechtsfeld gemachten Erfahrungen in ihren eigenen Kriegen, gegen die Kurden etwa, zunutze machen wird.

Ebenfalls auf der To-Do-List: Auch über den anderen aktuellen Konflikt im Windschatten der Pandemie, über den Bürgerkrieg in Äthiopien, bei Gelegenheit Genaueres in Erfahrung bringen!

03. Dezember 2020

Was ein Monster!

Die NDR-Talkshow am 1. 12. 20

Normalerweise ist es für mich ein ehernes Gesetz, wenn ich auf eine Talkshow stoße, besonders auch in den deutschen Fernsehsendern, weil die ja auch des abends fast aus nichts anderem bestehen: Weiterzappen!

Aber der Lockdown ist eben kein normaler Zustand. Die erzwungene soziale Deprivation macht mich so blöd, dass schon nach zwei gelesenen Büchern pro Tag in dieser Hinsicht für mich Schicht am Schacht ist. Alles Gute auf Netflix habe ich ebenfalls schon gesehen. Und dann landete ich da jetzt beim Zappen um Mitternacht in dieser unglaublichen Riesenrunde aus unglaublich vielen topprominenten Talkshowgästen, und zwischen denen saßen auch noch weitere Talkshowgäste, die waren, wenn sie nicht so topprominent waren, dann doch entweder unglaublich attraktiv, oder sie benahmen sich meine Aufmerksamkeit erheischend, indem sie etwa mit verdrehten Augen an die Decke stierten, während sie auf ihre eigene Befragung warteten, und einer in der Runde übersetzte auch simultan in die Gebährdensprache, sodass ich mich fragte, wer von den nichttopprominenten aber meist ungeheuer attraktiven Gästen dann wohl der oder die Gehörlose sein würde, für den oder die das gemacht wurde, und durch dies alles in der Summe war ich dann, wie man sich sicher vorstellen kann, sofort wie in einen Bann geschlagen und ich kam in der Folge - ich weiß nicht für wieviele Stunden - nicht mehr von der Sendung weg.

Wow! Was für ein Monsterformat! Was war da nicht alles geboten! Annegret Kamp-Karrenbauer hatte ich leider verpasst. Als ich dazu kam, gab gerade eine junge und ungeheuer attraktive Frau über sich Auskunft, und die anderen entweder topprominenten oder doch ebenfalls sehr attraktiven Gäste hingen ihr an den Lippen, (bis auf den einen, der, wie gesagt, ständig mit seltsam verdrehten Augen an die Decke stierte,) denn was diese beinahe schon allzu schöne Frau von Mitte Zwanzig da alles von sich berichten konnte, das war ja auch wirklich mehr als beeindruckend!

Sie ist Schauspielerin, ein kommender Star, hat schon in mehreren amerikanischen Produktionen mitgewirkt. Sie lebt mal da, mal dort in aller Welt, sie spricht diverse Sprachen. Sie hat schon so dies and das studiert, beste Abschlüsse vorzuweisen. Sie ist auch ein Topfotomodell. Sie hat eine berühmte Schauspielerin zur Mutter. Und sie ist sportlich. Vor kurzem war sie jetzt auf dem Kilimandscharo. Sie hat ja auch lange in Südafrika gelebt und von daher ein inniges Verhältnis zu Afrika, und das hatte sie schon lange machen wollen: hinauf auf den Kilimandscharo. Der Aufstieg war anstrengend, so in der dünnen Luft. Gesehen hat man leider nichts. Denn der Berg lag stets in den Wolken. Allen Teilnehmern an der Expedition war meistens speiübel. Aber die Kameradschaft in der Bergpartie mit all diesen ihr zuvor ganz unbekannten Menschen war einmalig, sagt sie, und allein schon von daher war diese Bergbesteigung super gewesen.

Es folgte eine bekannte Sportmoderatorin. Sie erzählte von ihrem Kampf gegen den Brustkrebs. Und wie man sich fühlt, wenn man die Diagnose bekommt: Das ist nicht schön. Und dass der Kampf noch nicht gewonnen sei, sie sei aber jetzt auf einem guten Weg und hätte auch schon wieder mit dem Moderieren begonnen. Zum Abschluss dieser Sektion in der Sendung bat der Moderator alle Anwesenden um einen aufmunternden und sie in ihrem Kampf bestärkenden Applaus.

Es folgte ein vielfach preisgekrönter Schauspieler, der hat bei einem, wie er meint, ganz schön ungewöhnlichen TV-Mehrteiler-Krimi, der ab dem kommenden Tag gesendet werden wird, die Hauptrolle gespielt.

Es folgte ein Duo aus zwei Schriftstellern, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Martin Suter, gut gesettelter und als Typ eher langweiliger Bestseller-Krimiautor mit Wurzeln in der Werbebranche und Benjamin Stuckrad-Barre, genialisch blödgekiffter Ahnherr der Popliteratur, haben sich vor einiger Zeit zufällig am Strand getroffen und kennengelernt und sie haben jetzt sogar zusammen ein Buch geschrieben.

Es folgte eine vielfach preisgekrönte Tänzerin. Sie ist seit dem Alter von vier Jahren gehörlos und hat zum Beispiel bei den Dancing Stars gewonnen. (Für sie also wurde da in die Gebährdensprache übersetzt.) Wie das nun geht, das Tanzen ohne Gehör, das war natürlich auch wieder äußerst interessant. Sie hat eine eigene Musik, sagt sie, in sich und manchmal wird ihr bei den Einsätzen bei Auftritten oder Videodrehs von ihrem Choreografen assistiert. Sie hat dann auch noch ein Stück im Studio live vorgetanzt, und zwar ganz ohne (hörbare) Musik. Es war dies ziemlich ungewohnt, wie auch der Moderator sagte, diese zwei Minuten Stille in einer Talkshow. Und es folgte die allerbeste, die allerkritischste, die wohlstüberlegte Moderatorennachfrage des Abends an die Tänzerin: Ob es denn manchmal immer noch vorkommen würde, dass sie sich trotz ihrer vielseitigen Aktivitäten und Fähigkeiten auf den Aspekt der Gehörlosigkeit reduziert fühlen würde? Ja, war die Antwort, das komme doch leider immer wieder einmal vor. (In der NDR-Talkshow aber wurde sie natürlich mitnichten nur wegen ihrer Gehörlosigkeit eingeladen und auf diese Eigenschaft reduziert, sondern wegen und auf doch immerhin zwei Eigenschaften: nämlich gehörlos und dazu noch Tänzerin zu sein …)

Es folgten dann, wenn ich mich recht erinnere, auch noch eine ganze lange Reihe weiterer topprominenter und höchstinteressanter Gäste, und wenn es so war, dann war ich da aber schon so ziemlich overloaded und so zieht das jetzt in meiner Rückschau nur noch so an mir vorbei, gewissermaßen wie in einem lange sich dahinziehenden Traum. Bis dann schließlich, zu sehr später Stund, schon in der Überziehungszeit, die Kabarettistin Hazel Brugger mit einem zeitbedingt nur sehr verknappten, aber doch erstaunlich hochkonzentrierten Bericht über ihre Schwangerschaft, ihre Hemmungen beim Politiker für die „Heute-Show“ Vis-à-vis-Derblecken, ihr Verhältnis zum und ihre bisherigen Erlebnisse mit dem ebenfalls anwesenden topprominenten Schweizer Landsmann Martin Suter sowie auch noch über ihr neues Comedyformat auf Netflix den Abschluss gab.

Wow! Was für ein Monsterformat! Es war da tatsächlich alles vorgekommen, was mich auch nur irgendwie interessieren konnte, und dazu auch noch alles mögliche, was auch noch andere Leute interessiert. Und es war zum Beispiel auch wirklich sehr lehrreich zu erfahren, wie es auf einer Bergwanderung auf den Kilimandscharo so ist, und wer von den anderen topprominenten und/oder topattraktiven und/oder topinteressanten Talkshowgästen sich so einen Trip auch einmal vorstellen könnte, wer ihn sogar schon konkret angedacht hat, wer von den Gästen ihn sogar schon höchstselbst gemacht hätte, just in diesem Jahr, wenn nicht die vermaledeite Coronakrise dazwischen gekommen wäre, und wer von den Gästen auf der anderen Seite es mit Sport und körperlicher Anstrengung eher nicht so hat und von daher wohl eher nie im Leben auf den Kilimandscharo hinaufwandern wird. Über all dieses und noch über eine ganz unglaubliche Unmenge mehr fühle ich mich jetzt, nachdem ich mal in die NDR-Talkshow hineingeschaut habe, ziemlich gut informiert.

10. Dezember 2020

Im Advent, vor 35 Jahren

Super-8-Material aus der alten Heimat

Schön schräges Super-8-Material hatte ich da produziert, 1985, für einen Nürnberg-Film, der letztlich unvollendet blieb. Ich spiele jetzt schon länger mit dem Zeug herum, und eine gewisse Passage daraus eignet sich im Moment ganz gut für eine Vorabveröffentlichung, quasi als „Single-Auskoppelung“: -


„Advent“ heißt das Ding jetzt also. Die vorweihnachtliche Konsumkritik ist natürlich alles andere als originell, aber im aktuellen Kontext mit dem Ringen zwischen den Interessen der Wirtschaft und des Handels auf der einen Seite und den kontaktbeschränkenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auf der anderen kann man sich das dadurch noch seltsamer wirkende Geschiebe in der Fußgängerzone schon mal wieder anschauen.

Mit den Freunden Martin und Wolfgang habe ich dazu eine neue Musik eingespielt.

25. Dezember 2020

Recycled

Super-8-Material aus 1985, die Zweite

Pünktlich zu Weihnachten ist ein zweiter Film aus dem Super-8-Material von 1985 fertig geworden, das ich vor einiger Zeit hatte digitalisieren lassen, und zwar der „Ofiziele Film Nürnberg Kulturhauptstadt Europas 2025“.


Ansehen?

Was will ich damit nun sagen? Das werde ich Ihnen hier natürlich nicht verraten. Die Kunst, sage ich immer, sollte (in der Regel) schon für sich selbst sprechen können.

Aber auch wenn ich es Ihnen verraten wollte, was ich mit dem Film sagen will, dann täte ich mich ziemlich schwer damit, es klar und eindeutig zu formulieren. Kunst ist ja oft - und keineswegs nur in der berüchtigten Sparte des huh, huh: Experimentalfilms - nicht zuletzt auch ein Experiment. Nicht, dass ich da einfach nur mal so herumprobiert hätte. Ich habe mir sehr wohl viel dazu überlegt. Und der Film ist ja auch genauestens durchkomponiert.

Aber wie das dann bei den Einzelnen ankommt, wie es interpretiert wird und und was davon hängenbleibt - da wird ein relativ großer Spielraum gelassen. Wenn etwas nur eine einfach zu formulierende Aussage verfolgt, dann zählt es doch eher zur Propaganda. Kunst hingegen definiert sich dadurch, sage ich auch oft, dass es auf mehreren Ebenen funktioniert. Wie der oder die Einzelne diese Ebenen dann gewichten und zueinander in Bezug setzen wird, das wird individuell sehr unterschiedlich sein. Kunst will also zwar ebenfalls, wie die Propaganda auch, emotional anrühren, aber sie verfolgt damit keine Aussage, die man in ein paar Worten umschreiben könnte. Eher will sie einen möglichst vielschichtigen Denkraum eröffnen.

Aber zu der Entstehungsgeschichte und zu den Hintergründen des Videos könnte ich Ihnen sehr wohl noch ein bisschen erzählen. Wir sind hier ja schließlich in einem Medien-Tagebuch. Hintergrundinfos und Reflexionen sind da ja nicht verboten. Haben Sie sich das Ding schon angesehen? Falls noch nicht, dann schlage ich Ihnen das jetzt vor, damit nicht zuviel vorweggenommen wird und damit der Streifen auch für sich selbst sprechen kann, bevor ich Ihnen im folgenden noch ein bisschen mehr dazu aus meinem Nähkästchen berichte.

Aus dem Nähkästchen:
Zwei obskure Super-8-Filmspulen

„Den Nachlass ordnen“: Eines meiner Langzeitprojekte, an dem ich jetzt schon mehr als zwei Jahre lang immer wieder arbeite. (Ja, ich weiß schon: „Vorlass“ muss es dann eigentlich heißen.) Ich habe ein Werkverzeichnis erstellt und all die alten analogen und neueren digitalen Speichermedien durchforstet und damit nun jetzt bald alle Kunstprojekte meines Lebens, auch die gescheiterten und die unvollendeten, auf einer Festplatte versammelt und dokumentiert. (Ja, ich war ja nie so picassomäßig fleißig, und so geht sich das auf einer 1 TB-Festplatte aus.)

Im Zuge dessen hatte ich schon all die Super-8-Werke aus meiner ersten Schaffensphase, bis zurück zu den ersten Kinderkrimis, digitalisiert, zum Teil auch rekonstruiert oder den Sound neu abgemischt. Und dann blieben da noch jene zwei Super-8-Spulen übrig, beschriftet mit „Diverses“, und von manchen Aufnahmen wusste ich es und bei anderen vermutete ich es stark, dass sie auf diesen Filmspulen mit dabei sein sollten, und ein funktionierendes Abspielgerät für Super-8 habe ich aber schon seit Jahrzehnten nicht mehr, und so wusste ich es letztlich also nur so ungefähr, was mich da erwarten würde, wenn ich das Zeug nach dieser langen Zeit zum ersten Mal wieder sehen würde.

Dass das nun verwendete „Nürnbergfilm“-Material dabei sein würde, hatte ich stark vermutet. Aber dass dieses auch Spielszenen enthielt, hatte ich schon ganz vergessen. Ebenso, dass ich da fast zwei ganze Drei-Minuten-Filmspulen lang mit der Kamera durch die vorweihnachtliche Fußgängerzone gerannt war. Ebenso, dass ich beim letzten Viertel dessen auch noch - das war schon wirklich ein nur sehr selten verwendetes Stilmittel! - die Kameralinse mit Leberwurst beschmiert hatte! Mit diesem Material würde sich etwas anstellen lassen, dachte ich mir gleich. Und mehr als das: Ich hatte auch sofort - und das kommt nicht oft vor und ist immer ein vielversprechendes Zeichen - eine zu den stummen Aufnahmen passende Filmmusik im inneren Ohr.

Warum hatte ich die Aufnahmen seinerzeit gemacht? Winter 1985/'86 also. Genau zu der Zeit arbeitete ich an meinem letzten Super-8-Film, an meinem Wackersdorf-Film. (Und dort machte ich blitzsaubere, astreine, uridyllische, wahrscheinlich meine schönsten Super-8-Filmbilder.) Wenn ich nicht in Wackersdorf war, verdiente ich mir mein Geld, indem ich am Nürnberger Hauptmarkt Fischweckla an die Touristen verkaufte.

Halb verkauft Fisch

Ein Standbild aus dem Video „AutoBioGrafie“: Victor Halb verkauft am Nürnberger Hauptmarkt Fisch.

Das tagtäglich immergleiche Verhalten der Touristenmassen ging mir dabei auf die Nerven. Auch der vorweihnachtliche Konsumtrubel ging mir auf die Nerven. Folglich wollte ich - so war ich in meinen jüngeren Jahren gestrickt - einen Film darüber machen. Irgend so etwas wie einen experimentellen Anti-Touristen-Film.

Dazu ist es also nicht gekommen. Der Film wurde nie weiter produziert, aus naheliegenden Gründen. Diese Filmidee allein konnte keinen ganzen Film tragen. Und die vorweihnachtliche Konsumkritik war erstens schon damals nicht mehr besonders originell und passte zweitens auch nicht zu dem Tourismusthema. Und so überließ ich mich dann, was das Filmemachen anging, sehr schnell ganz der Dynamik des damaligen Kampfes gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und widmete mich ganz diesem Film, und so sind die „Nürnbergfilm“-Aufnahmen in einer Schublade gelandet und mehr oder weniger vergessen worden. Und wenn dieses Filmmaterial nicht damals in den Super-8-Zeiten so sündhaft teuer gewesen wäre, dann hätte ich es bestimmt auch nicht aufgehoben, auf einer obskuren Filmspule, beschriftet mit dem Wort „Diverses“. In den heutigen, fast materialkostenlosen digitalen Zeiten wäre solch überflüssig gewordenes Rohmaterial zu einem nicht weiterverfolgten Film mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann gelöscht werden und auf immer verschwunden.

Dass jene anderen jetzt wiederverwendeten Aufnahmen, die an der Kreuzung am Nürnberger Marientunnel, nicht im Abfall gelandet sind, ist aber auch trotz des damaligen hohen Materialwertes sehr seltsam und einigermaßen erstaunlich. Da musste ich beim Betrachten des neu digitalisierten Materials auch selber kurz rätseln: Was ist denn jetzt das bitte für ein banaler und ganz und gar überflüssiger Unfug? Des Rätsels Lösung ist: Es handelt sich um Verschnitt aus dem Wackersdorf-Film. Für den ersten Teil, betitelt „Ermittlungen in Sachen Polizei“, war ich mit der Kamera auf der Jagd nach Polizeifahrzeugen im Einsatz und nach Personenkontrollen und dergleichen gewesen. In dem Wackersdorf-Film finden sich ganz ähnliche Einstellungen, und Autos mit Blaulicht fahren in den Tunnel, kommen aus dem Tunnel, sind in der Umgebung unterwegs …

Aus dem Nähkästchen II:
Nürnberg-Bashing

Beim Betrachten des neuen „Ofizielen Films Nürnberg Kulturhauptstadt …“ könnte ein Missverständnis aufkommen. Es liegt sogar ziemlich nahe. Ich müsse Nürnberg ja unendlich hassen oder doch wenigstens ungeheuer schiach oder provinziell finden, oder so etwas in diese Richtung. Die Möglichkeit, dass das Missverständnis entsteht, war aber, wenn ich nicht zu eindeutig werden und lieber einen Denkraum eröffnen wollte, nicht zu vermeiden.

Immerhin hege ich aber doch die Hoffnung, dem einen oder der anderen BetrachterIn möge dann auch - die Montage lässt ja Zeit dazu - der Gedanke kommen, dass da ja nicht nur die Nürnberger Fußgängerzone hässlich gefunden wird, sondern auch eine jede andere, überall; dass da nicht nur der vorweihnachtliche Konsumterror in Nürnberg kritisiert wird, sondern natürlich auch anderswo; dass es sich da nicht nur um eine Kritik des Nürnberger Stadtmarketings und Satire der dortigen Tourismuswerbung handelt, sondern auch um eine Kritik und Satire solcher marktschreierischen Konkurrenzgebahren zwischen Städten und Regionen allüberall in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt.

Ein Missverständnis wäre das also, wenn da der Eindruck entstehen sollte, dass ich Nürnberg hasse. Nein, ich mag die Stadt sogar sehr. Ich sehne mich nach dem nächsten Besuch dort, nach meinen dortigen Freunden, nach der Familie. Coronabedingt ist der letzte schon lange her. Ich stelle das jetzt hier richtig, dieses mögliche Missverständnis, das sich nicht vermeiden ließ, wollte ich in dem Film nicht zu plakativ und eindimensional vorgehen.

Aber ich möchte dazu doch auch noch eine grundsätzliche Anmerkung machen: Auch und gerade wenn man etwas mag und wenn man es dann ernst nimmt, dann kritisiert man es auch. Und das gilt für mich auch andersherum: Es gibt doch fast kein schlimmeres Urteil, als wenn ein Künstler nach einer Vernissage nur zu hören bekommt: Eh scho schee! Wenn ich etwas wirklich gut finde, wenn es mir wichtig ist, wenn es mich bewegt, dann mache ich mir dazu Gedanken. In dem Vernissage-Beispiel: Warum hat er das so und so gemacht? Was verstehe ich daran nicht? Was hätte ich daran anders gemacht? Kritik ist für mich das Salz in der Suppe der Kunst und überhaupt auch des ganzen Lebens. (Ja, blöd: Besonders in Österreich und Wien stehe ich mit diesem Standpunkt oft allein.)

Eine Stadt und zumal die alte Heimatstadt immer noch zu mögen und das amtlich-administrative Vorgehen der Stadtführung oder auch selbst gewisse Einstellungen in Teilen der Bevölkerung zu kritisieren, ist für mich also kein Widerspruch, sondern bedingt sich im Gegenteil beinahe schon gegenseitig.

Und so gibt es in meinem Schaffen immer wieder Kritik an Nürnberger Vorkommnissen und Zuständen, vulgo „Nürnberg-Bashing“.

In meinem Literarischen Zeitvertreib, ab Ende der 1990-er Jahre, wurde sie konkreter, schriftlich ausformuliert, explizit. Und da gab es, weil es sich eben um Nürnberg handelte, ein sehr schwieriges Langzeitthema, das in den verschiedensten Facetten immer wieder auftauchte, und das jetzt auch bei dem neuen Film wieder eine Rolle spielt, und das lautet: Wie geht Nürnberg mit seiner ziemlich speziellen Nazi-Vergangenheit um? Was macht es mit den architektonischen Hinterlassenschaften aus den Nazi-Reichsparteitagen? Oder damit, dass Streichers „Stürmer“ gerade hier erschienen ist? Dass die Nürnberger Rassegesetze eben als Nürnberger Rassegesetze zur Zäsur geworden und in die Geschichte eingegangen sind?

Zu Ende der 1990-er Jahre - das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände war in Planung und wurde gebaut - gab es eine neue mächtige Tendenz in der Diskussion um den Umgang mit dem schweren Stadterbe. Nürnberg errichtete eine „Straße der Menschenrechte“, proklamierte sich zur „Stadt der Menschenrechte“, bewarb sich als Sitz des Internationalen Menschenrechtsgerichtshofs, vor allem auch mit Verweis auf die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher. (Die ja aber von den Siegermächten ganz sicher nicht deshalb in dieser Stadt abgehalten worden waren, um sie für ihren vorbildlichen Umgang mit den Menschenrechten während der Nazizeit auszuzeichnen.) Diese Tendenzen spiegelten sich besonders auch im Stadtmarketing und in der Tourismuswerbung. Ich fand das immer obszön, diesen Teil der Stadtgeschichte nun geradezu wie eine Trumpfkarte in der Tourismuswerbung auszuspielen.

Dabei konnte von einer tatsächlichen Aufarbeitung dieses Teils der Stadtgeschichte in der Bevölkerung nicht annähernd die Rede sein. Die AnwohnerInnen des Platzes der Opfer des Faschismus wollten mehrheitlich den altgermanisch benamsten Wodanplatz wieder zurück haben. Der Rüstungs-, der Landminenproduzent Diehl, Sponsor für so dies und das, wurde zum Ehrenbürger ernannt. Das Unternehmen hatte seinen Grundstein des Erfolgs mit der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen in der Nazizeit gelegt! (Der Ehrenbürger bekam jetzt auch in dem neuen Film wieder, um an ihn zu erinnern, einen Zwischentitel.) Und ungerührt drangsalierte die Polizei in dieser angeblichen „Stadt der Menschenrechte“ weiterhin Leute alleine aufgrund von rassistischen Kriterien mit ihren ständigen schikanösen Personenkontrollen.

Seit jetzt bald 20 Jahren ist das Dokumentationszentrum Reichsparteitage mittlerweile offen. Es ist architektonisch gelungen. Es ist sehenswert. Ein todschickes Nazimuseum, mit allen Schikanen, hatte ich es mal gelobt. Der Antisemitismus in der damaligen Bevölkerung als Treibstoff ihrer Begeisterung und Faszination bei der Teilnahme und den Besuchen der Reichsparteitage ist aber leider immer noch im Grunde nur eine Randnotiz in der Ausstellung. Tiefer geht da noch die zweite, noch neuere Ausstellung, die auch noch eröffnet wurde zum Thema Nazizeit, vor ein paar Jahren: die im Justizpalast über die Nürnberger Prozesse. Die beiden Ausstellungen sind jetzt tatsächlich die besucherstärksten in Nürnberg und vor allem auch die zwei größten Trümpfe in der weltweiten Nürnberg-Tourismus-Werbung. Und - ich kann mir nicht helfen: Weiterhin finde ich jedes Stadtmarketing und jede Werbung und Tourismuswerbung immer noch mindestens überflüssig, wenn nicht wegen des damit transportierten Konkurrenzdenkens dumm und schädlich. Und jene ganz besonderen Nürnberger Trümpfe in dem Spiel ganz besonders obszön.

Um aber wieder zu dem neuen Nürnberg-Film zurückzukommen: Ich wusste nicht gleich, was ich mit dem wiederentdeckten Material anstellen sollte. Aber gleich am nächsten Tag, da wusste ich es. Da war ich nämlich beim Zappen auf eine ellenlange, grottenschlechte und urprovinzielle Sendung des Bayerischen Rundfunks gestoßen und erfuhr, dass sich Nürnberg nach dem gescheiterten Versuch von 2000 wieder als Kulturhauptstadt bewerben würde. Markus Söder pries dort wieder all jene altbekannten Vorzüge der Stadt an. Ich durfte da auch den neugewählten CSU-Oberbürgermeister erstmals ein wenig kennenlernen. (Das war für mich auch wieder einmal ein Armutszeugnis und fast schon eine persönliche Beleidigung: Dass in diesen Zeiten meine geliebte alte Heimatstadt, dass in diesen Zeiten immer noch eine Stadt dieser Größe, eine Großstadt von einer halben Million Einwohner mehrheitlich die CSU wählen kann, das ist schon wirklich wieder einmal der Gipfel der Provinzialität.)

Nach dieser langatmigen und urfaden Fernsehsendung wusste ich also, was ich mit dem wiederentdeckten Material anstellen würde.

Aus dem Nähkästchen III:
Mal wieder musizieren

Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf den durchaus angenehmsten Aspekt beim Erstellen des Films hinweisen. Ich hatte beim Wiedersehen mit dem Material gleich, wie schon erwähnt, einen dazu passenden Soundtrack im Ohr gehabt. Zwei Freunde hatten sich auch gleich bereit gefunden, die Musik gemeinsam einzuspielen. Es kam dann wieder Corona dazwischen, der zweite, gemäßigte Lockdown mit nächtlichen Ausgangsbeschränkungen, und so wurde es doch wieder nichts mit dem gemeinsamen Musizieren und Aufnehmen im Proberaum. Wir mussten die Spuren separat einspielen, wie es in Coronazeiten leider Usus ist. Und außer meinen Soloparts mit Percussion und Gesang blieb mir als musikalische Arbeit nur, das Ganze zu einem passenden Soundtrack zusammenzupfriemeln. Dieses aber hat mal wieder sehr viel Spaß gemacht.

Und für mich ist das jetzt nicht weniger als eine eigenständige Ebene des Films, deren mehrere ein Kunstwerk, wie ich zur Definition oben schon vorschlug, haben sollte: Wenn einen das ewige Vorweihnachtsweihnachtsliedergedudel im Radio nervt, könnte man jetzt auch stattdessen den Soundtrack des „Ofizielen Films …“ auflegen. Dieses Weihnachtslied ist neu, referenziert die Tradition, ist aber nicht so simpel gestrickt, und auch länger, und stellenweise polyphon, und dazu auch noch kritisch gemeint. Was will man von einem neuen Weihnachtslied mehr? Ich glaube, es wird ein Hit werden, früher oder später.

27. Dezember 2020

Das weihnachtliche Fernsehprogramm 2006

Ein Blick ins Archiv

Puh, überstanden. Es macht mich immer so aggressiv, das weihnachtliche Fernsehprogramm. Schon Weihnachten 2006, in den Anfangszeiten dieser Homepage, hatte ich das Phänomen so beschrieben: -

Früh aufgestanden. „Die gestohlenen Weihnachtsrentiere“ geguckt. Danach noch bis zur „Schneekönigin“ „Emily Erdbeer“ geguckt. Danach kam „Lauras Weihnachtsstern“. „Das letzte Einhorn“ hat sich blöderweise mit „Heidi“ überschnitten, aber ich hab hin- und hergezappt, bis die „Symphonie des Herzens“ begann, leider zeitgleich mit „Mariandls Heimkehr“ und mit „Heimweh ... dort, wo die Blumen blühn“, weshalb ich hin- und herzappen musste. Danach „Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin“ war natürlich Pflicht, und danach konnte ich dann kurz aufs Klo und habe was gegessen, bis „Das Traumschiff“ begann. Danach habe ich „Mut zur Liebe“ geguckt, danach „Eine Hochzeit zum Verlieben“, und als dann noch „Ein Trucker mit Herz“ und „Lassie und die Goldgräber“ absolviert waren, da war ich aber in einer Stimmung, da hätte mir keiner mehr ’ne geladene Pumpgun in die Hände geben dürfen … Besser also verbieten all den Scheiß.

29. Dezember 2020

Es ist ein Skandal!

Und sie machen auch noch eine Politikershow draus!

Es ist ein Skandal! Wie unser hier exklusiv präsentiertes, heimlich aus dem Staatsfernsehen im westafrikanischen Benin abgefilmtes Material dokumentiert, sind sie dort jetzt schon dabei, auch noch den hinterallerletzten Säugling aus dem hinterallerletzten Kaff im hintersten Hinterland gegen Covid zu impfen, während hier in Europa der bitterste Mangel an dem Serum herrscht. Und die Politiker machen auch noch schamlos, wie den Bildern ebenfalls zu entnehmen ist, eine große Show draus!


Nur weil die Afrikaner wohlhabender sind und - zugegeben: auch etwas mehr Erfahrung mit Virusepidemien haben, heißt das noch lange nicht, dass wir Europäer Menschen zweiter Klasse sind, die man jetzt einfach verrecken lassen darf. Erst schotten sie sich ab und lassen niemanden ins Land, der auch nur ein bisschen an ihrem Wohlstand teilhaben will und wir können bei unseren Versuchen, dorthin zu gelangen, im Mittelmeer ersaufen, und jetzt auch noch das!

Wir fordern eine gerechte Verteilung der Anti-Covid-Impfdosen in allen, nicht nur immer in den reichen Regionen der Welt!

01. Jänner 2021

Silvesterfeiern abgesagt

Früher war alles besser

Auch die gestrigen Silvesterfeiern sind natürlich wieder dieser elendigen Nanosau zum Opfer gefallen. Unsere Erinnerung an die rauschenden Feste vergangener Jahre gliche bereits nur noch einem blassen, nostalgisch verklärten Schatten, hätten wir nicht Zugriff noch auf die objektiven und unwiderleglichen Fotodokumente aus den besseren Zeiten: -


Silvesterfad 2017

Ein Blick zurück:
Silvester feiern 2017/2018 in Wien.

03. Jänner 2021

Super-8, digitalisiert, die Dritte

Wackersdorf 1986

Es waren die letzten Super-8-Aufnahmen, die ich überhaupt gemacht hatte, während und nach der Fertigstellung meines Films „Die Polizei fährt nach Wackersdorf“. Ein geplanter zweiter Wackersdorf-Film war also (hauptsächlich aus Geldgründen) nicht mehr fertiggestellt worden. Das Material ist stumm und ich habe es weitgehend in der überlieferten Rohschnittfassung gelassen und nur einige Zwischentitel eingefügt.


Ansehen?

07. Jänner 2021

Nur noch eine Formsache

Ein langer Fernsehabend

Nur noch eine Formsache war es normalerweise, wenn sie in Washington seit über 200 Jahren alle vier Jahre das Ergebnis der Präsidentenwahl bestätigt und verkündet hatten. Gestern war es das nicht. Gestern wurde nicht nur die altehrwürdige Tradition der Demokratie gepflegt.

Zunächst herrschte der Mob auf der Straße, stürmte das Capitol und erzwang die Evakuierung der FunktionsträgerInnen und den Abbruch der Prozedur. Über Stunden war dann das Gebäude von Tausenden von Leuten umringt, von überall in den USA angereist, die dem Aufruf des amtierenden Präsidenten gefolgt waren, ebendort „ein starkes Zeichen zu setzen“ gegen seine Abwahl, von der er schon seit Monaten und auch schon vor der Wahl behauptete, sie könne nur durch Wahlbetrug entstanden sein. Noch während in dem Gebäude Büros verwüstet und Abgeordnete und Senatoren bedroht und angegriffen wurden, wiederholte Trump in einer Videobotschaft auf Twitter die Anschuldigungen, die Wahl sei ihm, uns, den Amerikanern gestohlen worden. Er würde verstehen, wie sich die Demonstranten fühlen würden, aber sie mögen jetzt doch bitte möglichst auf Gewalt verzichten und nicht die Ordnungskräfte attackieren und allmählich jetzt wieder nachhause gehen. Und für ihn, fügte er nach diesem halbherzigen Aufruf zur Mäßigung umgehend wiederum Öl ins Feuer gießend und direkt an die rioteers gewandt noch an, seien diese Leute „very special“, und er liebe sie.

In Washington war es da drei Uhr, vier Uhr am Nachmittag. Hier vor dem Fernseher etwas später als die Primetime. Für mich wurde es eine lange Fernsehnacht.

Erst allmählich trafen die verschiedenen Sicherheitskräfte ein. Sie drängten die Menge vom Capitolsgebäude zurück und befreiten drinnen die Abgeordneten und SenatorInnen aus den Räumen, in denen sie sich vor der wütenden Menge in Sicherheit gebracht hatten. Um etwa 17 Uhr Ortszeit, hier um elf Uhr nachts, war das Gebäude safe. Für 18 Uhr, hier Mitternacht, wurde in Washington eine allgemeine Ausgangssperre verhängt, die von vielen der Trumpanhänger zunächst einmal ignoriert wurde. Um 20 Uhr, hier zwei Uhr nachts, wurde die Sitzung zur Verkündigung des Wahlergebnisses wieder aufgenommen. Bis halb fünf Uhr morgens saß ich noch vor dem Fernseher. Mittlerweile ist die Wahl Joe Bidens zum neuen Präsidenten der USA bestätigt worden.

Es hätte nur noch eine reine Formsache sein sollen, normalerweise. Aber Trump hatte dazu aufgerufen, zu dem Anlass nach Washington zu kommen. Noch am Mittag hatte er vor seinen Anhängern gesprochen, sie dazu aufgerufen, zum Capitol zu gehen und dort „stark zu sein“. Denn mit Schwäche, so Trump weiter in seiner Ansprache, hole man sich keine gestohlene Wahl wieder zurück. Die Massendynamiken, die er damit angefacht hatte, waren, wie sie es oft sind: ziemlich unkalkulierbar. Würden in dem geplanten und vorangekündigten Chaos jetzt vielleicht auch noch rechtsextreme Milizen aktiv werden? Würden Schüsse fallen? Wo blieben nur die Sicherheitskräfte? Würde es den Trumpanhängern vielleicht sogar gelingen, die Verkündigung des Wahlergebnisses ganz zu verhindern? Vieles stand da für Stunden auf dem Spiel und auf der Kippe.

Was geht bloß in diesen Leuten vor, habe ich mich während dieser langen Fernsehnacht immer wieder gefragt. Und ich habe dann versucht, ein paar Psychogramme zu zeichnen …

Der ideelle Gesamttrumpist meint

Ich glaube nicht, dass uns die Wahl gestohlen wurde, ich weiß es. Woher ich es weiß? Jeder weiß das doch.

Trump ist einer von uns. Er spricht unsere Sprache. Er zeigt es dem Establishment. Vom ersten Tag seiner Regierung an hat er alles richtig gemacht. Er hat unsere boys heimgeholt. Warum sollen wir Amerikaner immer den größten Beitrag für Probleme in rückständigen Gegenden in aller Welt leisten, und die anderen machen nichts und streichen nur die Profite ein? Und er hat die Mauer gebaut. Wir können nicht noch Millionen Lateinamerikaner bei uns aufnehmen. Sie stehen schon an der Grenze und warten.

Trump denkt zuerst an unsere Leute. Dass das dem globalisierten Establishment gegen den Strich geht, ist natürlich klar. Und so tun sie jetzt alles, damit er keine zweite Amtszeit bekommt. In den Mainstream-Medien wird er täglich nur schlecht gemacht. Das ist doch die reine Hexenjagd. Ich lese und schau mir das schon lange nicht mehr an. Und dass sie uns die Wahl stehlen würden, war völlig klar. Trump hatte es schon vor der Wahl vorhergesagt!

So wollen wir heute ein starkes Zeichen setzen. Wir sind das Volk! Klar gab es heute auch unschöne Szenen. Manches ging mir persönlich zu weit. Aber das hat sich das System selbst zuzuschreiben. Wenn sämtliche Gerichte sämtliche Hinweise auf Wahlfälschung stur ignorieren - die manipulierten Stimmabgabemaschinen, die verschwundenen Stimmzettel, alles das - dann haben wir nicht nur das Recht, dagegen auf die Straße zu gehen und die Stimme zu erheben. Dann ist das sogar meine patriotische Pflicht, finde ich!

Ob ich mir überlegt habe, wie das jetzt weitergeht? Klar habe ich mir das überlegt. Wichtig ist erst einmal, dass wir heute ein machtvolles Zeichen gesetzt haben. Die ganze Welt hat es heute gesehen, dass wir den Wahlbetrug nicht hinnehmen. Und wir sind viele!

Für mein Selfie vor der Westfront das Gebäudes habe ich übrigens innerhalb von fünf Minuten über 100 Likes bekommen! Wir haben heute Geschichte geschrieben.

Der ideelle Gesamtprepper meint

Wann der Tag X genau kommt, keiner weiß es. Ich weiß nur, dass er kommt, früher oder später. Es kann so doch nicht ewig weitergehen, das ist doch klar. Irgendwann wird das korrupte Regime zusammenbrechen. Oder es wird einen größeren islamistischen Anschlag geben und wir schlagen endlich einmal auch zurück, und zwar gründlich. Wenn das mit dem Bevölkerungsaustausch so weitergeht, wird es unweigerlich zum Bürgerkrieg kommen, früher oder später. Das ist der Tag X.

Darauf sind wir dann vorbereitet. Wir haben Waffen deponiert. Wir haben klare Pläne und Befehlsstrukturen. Aus Sicherheitsgründen sind wir dezentral in Kleingruppen organisiert. Wir sind aber auch bis hinein in hohe Polizei- und Militärkreise bestens vernetzt. Wenn es soweit ist - ihr werdet euch wundern, was dann alles möglich ist!

Der Tag ist nicht fern. Schon morgen kann der Tag X sein. Er hätte sogar fast heute schon sein können. Zuvor weiß man das als Einzelner nicht so genau. In der Rückschau würde ich sagen, es war heute so eine Art Probelauf. Ein erfolgreicher und aussagekräftiger Test unter Realbedingungen. So ähnlich wie im letzten Sommer in Deutschland, bei den Querdenkeraktionen mit den Angriffen auf den Reichstag in Berlin.

Was Trump wirklich denkt

Am wichtigsten ist es - ich sage das immer! - das Gesetz des Handelns in der Hand zu behalten. Es kann auch einmal einen Rückschlag geben. Aber dann schlage ich doppelt so hart zurück. Dass sie uns die Wahl auf so schändliche Weise gestohlen haben, war so ein Rückschlag. Aber ich habe gezeigt: Damit bin ich nicht weg. Wir haben noch viele Möglichkeiten. Und: Was wollen die Leute? Der Marsch auf das Capitol war doch sogar ein recht gelindes Mittel. Hätte ich stattdessen vielleicht einen Atomkrieg mit dem Iran anfangen sollen?

Strategie, Strategie … Eine Strategie gibt es nicht. Kann es nicht geben. Ich weiß doch, wie das läuft. Selbst auch ein sehr mächtiger und wohlhabender Industriekapitän kann nie wissen, was ihn am nächsten Tag erwartet. Vielleicht hat die Konkurrenz eine bahnbrechende Erfindung gemacht, und plötzlich steht dadurch das eigene Geschäftsmodell vom einen Tag auf den anderen komplett in Frage. Da heißt es dann improvisieren. Und was soll da erst ein kleiner machtloser Durchschnittsamerikaner sagen, wenn er vom Schicksal gebeutelt wird?

Niemand weiß es, was als nächstes kommt. Du kannst immer nur den nächsten Schritt selber setzen, um wieder in die Offensive zu kommen. Das Gesetz des Handelns immer in der Hand behalten, das ist alles. Eine Strategie bis zum Sankt-Nimmerleinstag kann es nicht geben. Eine Strategie gibt es nicht.

In diesem Sinne war das heute ein großartiger Erfolg. Mit mir wird auch weiter zu rechnen sein. Einige hatten mich schon abgeschrieben. Einige pseudokonservative Weicheier, auch in der Partei, auch gewisse Leute sogar bei Fox-News meinten, die Ära Trump sei nun vorbei. Sie hat aber gerade erst begonnen. Wir lassen uns von unserem Weg nicht abbringen. We will auch weiterhin make America great again!

Der ideelle Gesamt-CNN-Kommentator meint

Wir haben immer vor ihm gewarnt. Er ist ein Soziopath. Er ist unfähig zu jeder Empathie. Er denkt nur an sich selbst. Er fürchtet sich jetzt, für seine schamlose Bereicherung während seiner Präsidentschaft vor Gerichten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dass seine Kleptokratie und seine ungesetzlichen Machenschaften und prototypischen Anlagen zum russischen Oligarchen nicht zur Sprache und vor Gericht kommen, dazu ist ihm, wie wir gesehen haben, jedes Mittel recht.

Heute hat er einen wütenden Mob zu einem Angriff auf das Herz der amerikanischen Demokratie aufgehetzt. Nur zu seinem eigenen persönlichen Nutzen. Handelt so ein Präsident? Was kommt da noch in den nächsten zwei Wochen bis zur Amtsübergabe? Vizepräsident Pence muss das Amendment 25 anwenden und ihn wegen Amtsunfähigkeit und seines andauernden Realitätsverlusts - denn er scheint mittlerweile ja auch selber wider alle Evidenz zu glauben, dass ihm die Wahl gestohlen wurde - des Amtes entheben.

Der neue Präsident Joe Biden erbt eine schwere Aufgabe: Er muss versuchen, die tiefen Gräben des Hasses in der amerikanischen Bevölkerung zuzuschütten und zu überbrücken. Er muss das verlorene Vertrauen in die amerikanische Politik wiederherstellen, dazu eine Pandemie bekämpfen, die von Präsident Trump fast komplett ignoriert wurde, sodass es in unserem Land jetzt die weitaus meisten Toten im Zusammenhang mit Corona gibt. Und er muss Trumps Abkehr von der internationalen Zusammenarbeit in Sachen Klimawandel, Freihandel, Abrüstung, Weltgesundheit rückgängig machen. Es wird eine Mammutaufgabe sein, zuviel im Grunde für eine oder selbst auch für zwei Legislaturperioden.

Trump ist mit Abstand der schlechteste Präsident, den wir je hatten.

Der ideelle Gesamtsoziologe meint

Irgendwelche Durchgeknallten wird es immer geben. Verschwörungstheoretiker diverser Couleur, religiöse und politische Phantasten und Fanatiker wird es immer geben.

Aber wirklich gefährlich im Sinne von gesellschaftlich wirkmächtig werden sie in aller Regel erst, wenn sie sich a) unter einem charismatischen Führer sammeln können und/oder b) von einer mächtigen Elite oder im schlimmsten Fall von der Staatsspitze oder einem Staatsoberhaupt in ihrem Wahn bestärkt und weiter aufgehetzt und für deren politische Ziele aktiviert und instrumentalisiert werden.

23. Jänner 2021

Bilder, die wir so nicht sehen wollen, aber eben eigentlich doch

Abfahrtsrennen auf der Streif

Die Streif ist bei mir ein Fixtermin. Gestern war ich wieder live im Fernsehen mit dabei. Höchst spektakuläre Fernsehbilder sind bei den Abfahrtsrennen auf der Streif vorprogrammiert. Das war auch gestern wieder so.

Alleine schon die langgezogene Kurve, etwa zur Hälfte des Rennens, bei der ein jeder Abfahrer, wenn er die Skier bis dahin hat laufen lassen, aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten heraus bestenfalls haarscharf darum herum kommen kann, in die Begrenzungszäune getragen zu werden - es ist bei jedem einzelnen Fahrer auf's neue wieder Adrenalin pur!

Und dann natürlich die Sprünge! Sprünge gehören zu einer Skiabfahrt wie das Amen zum Gebet. Und besonders der Zielsprung in Kitzbühel spielt da in der obersten Liga.

Der Zustand der Piste, die Sicht, der Wind und die Streckensetzung waren übrigens gestern in Kitzbühel, wie es vom Kommentator und in Interviews mit den Rennläufern hieß, so handzahm wie schon lange nicht mehr.

Nur der Zielsprung hatte es mal wieder in sich. Die Veranstalter hatten nach den Trainingsläufen noch alles versucht, um ihn zu entschärfen. Und trotzdem hoben dort jetzt alle die Rennläufer am Ende ihrer zwei auslaugenden Rennminuten noch einmal mit um die 150 Stundenkilometer Geschwindigkeit heranrasend einigermaßen unkalkulierbar ab und segelten beinahe wie beim Skispringen und oft verzweifelt in der Luft rudernd ziemlich hoch und bis zu 75 Meter weit bis fast in den Zielbereich. Es war ein verdammtes Lotteriespiel: Wer würde als erster zu Sturz kommen? Wann sonst sieht man solch nervenaufreibende Bilder? Das sind so die Bilder, die wir aus Kitzbühel sehen wollen.

Einen hat es bei dem Zielsprung, einen weiteren Fahrer hat es an einer anderen Stelle der Strecke übel zerlegt. Dem ersteren wurden beim Sprung die Skispitzen nach unten gedrückt, er stürzte mit Kopf und Oberkörper voran ins Ziel und war dann bewusstlos. Beide waren aber zum Glück, wie es im Streckenfunk hieß, nach kurzer Zeit wieder ansprechbar.

Die Rettungskette hat tadellos funktioniert: Das Rennen wurde unterbrochen, bis die Verunfallten erstversorgt, stabilisiert und mit dem Hubschrauber abtransportiert worden waren und bis dieser wieder zurück und für eventuelle weitere Vorkommnisse wieder neben der Strecke bereit gestellt worden war.

Wenn dann in den Rennpausen zu den wartenden nachfolgenden Läufern in den Startbereich geschaltet wurde und wenn wir erleben durften, wie sie dort mit dem Bewusstsein dessen, was dem Kollegen eben passiert war, versuchten, wie es dann immer heißt, „die Spannung weiter hochzuhalten“ - da konnte man es ihnen vom Gesicht ablesen, dass das natürlich nicht eine Spannung in emotionaler Hinsicht war, an der es ihnen da nun gemangelt hätte und die sie nun weiter hätten künstlich hochhalten müssen. Nein, es war schlicht die vielzitierte, gute alte „Körperspannung“, um die sie da ringen mussten, wartend auf den eigenen Höllenritt, nämlich allein schon um das Zittern ihrer Knie in den Griff zu bekommen. Großes Kino war das wieder! Das sind so die Bilder, wie wir sie von der Streif sehen wollen!

Und von den Bildern aber, die wir lieber nicht sehen wollen, wie es von den Kommentatoren da immer heißt, bekamen wir in diesen Rennpausen dann auch noch überreichlich serviert. Die Bilder vom Sturz, in Wiederholung, aus sämtlichen verfügbaren Kamerawinkeln, in Zeitlupe, in Superzeitlupe, und von den Experten wurde der Ablauf in sämtlichen Details analysiert. Der gestern schwer Verunfallte, hieß es dabei gleich mehrmals, hätte im Grunde sogar alles richtig gemacht. Er war bei dem Sprung in Gefahr gekommen, in Rückenlage zu geraten und hatte dieses bemerkt und in Sekundenbruchteilen korrigiert, aber leider eben nur um ein Alzerl zuviel, und so war es dann passiert. Er kippte im Flug mit dem Oberkörper nach vorne, und das Drama nahm seinen Lauf. So hätte es jeden treffen können. Der Zielsprung war gestern die reine Lotterie. Und wieder und wieder sahen wir uns die haarsträubenden Bilder an, die wir gemäß dem Kommentator lieber gar nicht hätten sehen wollen.

Aber jetzt mal Hand auf's Herz: Wenn ich solche Bilder nicht würde sehen wollen, warum sollte ich mir das Rennen dann anschauen? Für mich selbst kann ich ganz klar sagen: Ich mag schon auch zum Beispiel Skisprungbewerbe, und das Skifliegen noch mehr. Aber weil es da kaum noch Zwischenfälle gibt, ziehe ich dieses Skifliegen beim Schlusssprung in Kitzbühel von wegen der größeren Spannung eben doch noch deutlich vor.

Ich habe ja durchaus auch Verständnis für die Athleten, die sich darüber beklagen, dass der Skizirkus im Dienste höherer TV-Einschaltquoten immer halsbrecherischer werden würde. Aber schließlich haben sie sich den Beruf selbst gewählt, und sie werden, zumindest wenn sie einigermaßen erfolgreich sind, für das Risiko auch ganz gut bezahlt. Immerhin konnten sie doch auch mit dem Skifahren ihr Hobby zum Beruf machen. Und wer kann das schon von sich sagen? Und jeder Beruf hat eben auch seine Schattenseiten.

Genau betrachtet sind es immer genau die Schattenseiten eines Berufs - dass er krank macht, dass er anödet oder vielleicht auch „nur“ einem die kostbare Lebenszeit stiehlt -, für die man mit dem Gehalt finanziell entschädigt wird. Jedem Athleten steht es aber ja auch jederzeit frei, den Beruf zu wechseln. Selbst auch für Leute, die nur sportlich veranlagt sind und sonst nichts können, gibt es da auch noch genügend andere Möglichkeiten, sich beruflich zu betätigen, ohne solch immense Risiken in Kauf nehmen zu müssen. Nur so als ein Beispiel unter vielen fällt mir da das Kickboxen ein, ein Sportberuf mit kalkulierbarerem Risiko als bei den Skirennläufern und dann halt auch nur noch einem entsprechend überschaubaren Gehalt.

14. Februar 2021

„Aufschrei der Jugend“

Ein Dokumentarfilm über die Berliner Fridays for Future

Kathrin Pitterlings Dokumentation über die Berliner Fridays for Future-Bewegung (gesendet am 10. 2. im BR) ist eine Langzeitbeobachtung wie aus dem Lehrbuch. Über längere Zeit immer dabei und eng dran sein an den jungen AktivistInnen - es schafft Vertrauen. So erhält sie intime Einblicke sowohl in die technischen Abläufe und das organisatorische Innenleben der Bewegung als auch in die euphorischen Ups und die deprimierenden Downs in der Gefühlswelt der ProtagonistInnen.

Diese jungen Leute zwischen 14 und 20 haben ja wirklich, könnte man sagen, alles richtig gemacht. Wenn es ihr Ziel gewesen wäre, „ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen“, dann wären die freitäglichen Schulstreiks gegen Klimawandel und Erderwärmung ein voller Erfolg gewesen. Da es ihnen aber nicht nur darum ging, ihr Thema in die Diskussion und in die Medien zu bekommen, sondern auch um entsprechende, schleunigst einzuleitende Gegenmaßnahmen, sieht die Bilanz bis heute doch nicht so gut aus. Die Politik leiht den jungen AktivistInnen immer mal wieder öffentlichkeitswirksam ein Ohr, aber mit den praktischen Konsequenzen in Richtung auch nur auf die Erfüllung der Pariser Klimavereinbarungen - und mehr verlangen die Fridays for Future ja nicht - ist es komplett Fehlanzeige.

Die jungen Leute sind ganz und gar nicht naiv an die Sache herangegangen. Nein, im Gegenteil: Da gibt es überraschend klare Einsichten über gewisse Mechanismen der bürgerlichen Medien und die Diskussionen darüber, wie mit solchen Problemen umzugehen sei: Dass die Medien zum Beispiel immer ein „Gesicht“ haben wollen, welches für die Öffentlichkeit dann die Bewegung repräsentieren soll. Und dass dies einerseits aber dem basisdemokratischen und angestrebten unhierarchischen Charakter der Bewegung diametral entgegen steht und andererseits für die solchermaßen aufgebauten Gallionsfiguren allzu oft auch üble Folgen hat, als da wären - und das setzt auch in dem Film einer Protagonistin schwer zu: hunderte und tausende von übelsten Hass-E-Mails von Seiten der Klimawandelleugner; oder dass diesen konstruierten angeblichen Vorbildern und Führerfiguren dann oft postwendend irgendwelche persönlichen kleinen Widersprüchlichkeiten vorgehalten werden, wie einmal ein billiges Weltmarkt-T-Shirt am Leib gehabt zu haben und dergleichen, wobei dann das sensationell enthüllte Inkonsequenzchen am besten gleich die ganze Bewegung als entweder heuchlerisch oder weltfern desavouieren oder jedenfalls doch ihre Forderungen als vollkommen unpraktikabel ausweisen soll.

Solchen Mechanismen also steuern die jungen Leute sehr bewusst entgegen, ohne sie dadurch natürlich außer Kraft setzen zu können. Auch auf andere Probleme haben sie einen klaren Blick, wie zum Beispiel auf das alte Problem mit der Transparenz: dass man also einerseits immer offen bleiben will für neue MitstreiterInnen, dass man aber andererseits immer auch eine Art „Inner Circle“ braucht, schon um die Unmengen an Organisatorischem in den Griff zu bekommen und auch um eventuell einmal eine Überraschung setzen zu können, ohne dass gleich alle Welt im Voraus von den Plänen weiß.

Diese Einblicke in die internen Diskussionen sind die erfrischendsten Szenen des Films. Es zeigt sich da auch: Man muss ja nicht immer wieder die gleichen Fehler begehen. Sie mussten nicht bei Null anfangen. Politmackergehabe zum Beispiel oder die altehrwürdigen geschlechtsspezifischen Aufgabenteilungen scheinen hier, wenn man den Bildern glauben darf, nur noch Schnee von gestern zu sein. Sehr selbstverständlich pflegen die Jüngeren und die Älteren und die Jungs und Mädels einen freundlich-solidarischen, fürsorglichen und allgemein gleichberechtigten Umgang untereinander. Auch in dieser Hinsicht kann man sagen: Die Fridays for Future haben wirklich (fast) alles richtig gemacht.

Und trotzdem kommt am Ende der große Frust. Es ist anstrengend und aufreibend. Manche erleiden handfeste Burnouts. Es gibt keine sichtbaren Erfolge. Die Presse behandelt die Bewegung zuerst als Hype und verliert dann aber auch relativ schnell wieder das Interesse. Auch wieder sehr typisch für diese Bewegungsdynamiken ist es dann, wenn sich die Leute irgendwann fragen, ob man dann wohl jetzt Gewalt anwenden müsste, um weiterhin beachtet zu werden? (Die Leute in dem Film entscheiden sich dezidiert dagegen.)

Sie haben alles richtig gemacht. Viel Zuspruch, Zulauf und Aufmerksamkeit gefunden. Aber die praktischen Konsequenzen von Seiten der Politik bleiben aus. Was macht das mit den Leuten? Einige nehmen sich eine Auszeit von der Bewegung oder sie ziehen sich ganz zurück.

Und es kommt ja noch schlimmer: Nicht nur, dass die nächste, die Coronakrise das Anliegen der Fridays for Future schon bald vollkommen überdeckt. Sie beraubt sie auch ihres machtvollsten Mittels: der Massenmobilisierungen auf der Straße. Und wie zum Hohn führt sie den AktivistInnen noch zusätzlich vor, welche einschneidenden Möglichkeiten es da eigentlich geben würde, um einer Krise zu begegnen, wenn man sie nur ernst nimmt. Da wird jetzt plötzlich die Wirtschaft komplett heruntergefahren. Da werden Unsummen an Geld eingesetzt, um der Coronakrise zu begegnen, während der Klimakrise auch nur in Ansätzen wirkungsvoll zu begegnen angeblich immer ein behauptetes Riesengestrüpp von Sachzwängen entgegen gestanden hatte.

Es ist nicht gerade motivierend im Sinne eines weiteren politischen Engagements. Ist das jetzt wirklich die Botschaft an die jungen Leute? Ihr könnt euch gerne austoben nach allen Regeln der Kunst, auch mit gewissen Regelverletzungen wie zum Beispiel Schulstreiks, aber ändern wird sich dadurch rein gar nichts? Es ist schon wirklich bitter.

Gleich zu Beginn des Films hatte ich mit mir selbst gewettet, dass das Wort „Wachstum“ in dem Film nicht erwähnt werden würde. Damit habe ich recht behalten. Der Hintergrund war natürlich meine Überzeugung, dass bei einer Beibehaltung einer Wirtschaftsweise, deren Wesen es ist, unablässig weiter wachsen zu müssen, mit einer CO2- oder Klimaneutralität allein kaum etwas gewonnen wäre. Die systemimmanente stetig wachsende Ausbeutung der begrenzten Ressourcen und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen würde sich nur verlagern und in anderen Bereichen schon bald wieder ebenso dringliche Probleme aufwerfen.

Ich will damit jetzt nicht beckmessern. Nein, es gibt schon auch gute Gründe, realpolitisch zu bleiben und nicht immer gleich das große Ganze in Frage zu stellen. Aber umso bitterer fällt dann ja doch auch das Resumee eines der jungen Protagonisten gegen Ende des Films aus: -

Die Fridays for Future hatten nicht mehr gefordert, sagt er da, als sich an die Vereinbarungen des Pariser Klimaschutzabkommens zu halten. Das sei nicht mehr als nur eine Aufforderung an den Staat, sich an seine sich selbst gesetzten Regeln zu halten. Von diesen aber hätte es sich mittlerweile nach Meinung der meisten WissenschafterInnen gezeigt, dass es jetzt auch schon zu spät wäre, wenn man nur diese Regeln befolgen würde. Dass dieses alleine die Klimaerwärmung schon nicht mehr genügend begrenzen könnte. Und trotzdem wird selbst dieses Ungenügende von der Politik immer noch nicht auch nur in Ansätzen in Angriff genommen und umgesetzt.

Sie macht schon wirklich traurig, eine solche gesamtgesellschaftlich erteilte Lehre an die jungen Leute in Sachen zivilgesellschaftliches Engagement.

28. Februar 2021

„Das Kapital im 21. Jahrhundert“

Ein Film von Justin Pemberton nach dem Bestseller von Thomas Piketty

Aufgewachsen sind wir zur Zeit des Kalten Krieges. Die eine Hälfte der Menschheit war damals vom real existierenden Sozialismus geknechtet. Sie durfte nicht reisen, war einem rigiden Überwachungsregime unterworfen, materiell musste sie darben und entbehrte fast aller demokratischen Rechte.

Marx hätte das so vermutlich nicht gewollt, erfahren wir im nächsten Experteninterview, aber in gewisser Hinsicht ging dieses Menschheitsexperiment sehr wohl stringent aus seiner Lehre hervor. Und als dann in den Jahren um 1990 herum die real existierenden sozialistischen Staaten an ihren eigenen Widersprüchen gescheitert und sang- und klanglos in sich zusammen gefallen waren, atmeten die Menschen, die das Experiment am eigenen Leibe hatten erleiden müssen, erleichtert auf.

Anscheinend war damit der Marxismus nun rundheraus widerlegt und der Kapitalismus hatte sich jedenfalls als widerstands- und wandlungsfähiger erwiesen, als von Marx prognostiziert. Aber heißt das nun, dass es jetzt mit dem Kapitalismus auf ewig so weitergeht?

Blicken wir doch (mit einem weiteren der Experten) noch einmal noch weiter zurück! Was Marx nicht gesehen oder jedenfalls doch nicht genügend beachtet hätte: Nicht erst im Kapitalismus, bereits schon im Feudalismus und erst recht im Absolutismus hatte es himmelschreiende Unterschiede zwischen arm und reich gegeben. Im absolutistischen Frankreich zum Beispiel hatte der Hochadel bis hinauf zum König, und das waren nur rund ein Prozent der Bevölkerung, über 99 Prozent des Kapitals verfügen können. Dieses Ungleichgewicht hätte dann letztlich zur Französischen Revolution geführt. Im heutigen Kapitalismus nun würden schon wieder, fügt der Experte an, nur rund zehn Prozent der Weltbevölkerung 90 Prozent des Reichtums besitzen. Und diese Konzentration des Kapitals in nur wenigen Händen schreite weiter stetig voran …

Genug! Bei Minute 7:39 halte ich die Leih-DVD aus der Stadtbibliothek an. Mehr muss ich nicht hören. Für solchen Humbug ist mir meine Lebenszeit zu schade.

Interessant ist an diesen Produkten allenfalls, wie der gute alte Marx anscheinend nicht tot zu kriegen ist. Wie sonst nur ein unzureichend gebannter Dämon oder ein verdrängtes Trauma taucht er ständig irgendwo wieder auf, woraufhin mit ebenso schöner Regelmäßigkeit diverseste Experten aus dem Feuilleton oder aus der Philosophie, aus den Geschichts- oder Wirtschaftswissenschaften auf den Plan treten, die sich bemüßigt fühlen, sich an dem lästigen Wiedergänger abzuarbeiten, und alle tun sie es dann aber diesmal mit einem ganz neuen und sehr zeitgemäßen und zuvor noch nie gewählten Zugang. Das wäre ja auch alles gut und schön und nichts spräche dagegen, sich Marx mit neuen Zugängen und Aktualisierungen zuzuwenden, wenn da nicht seltsamerweise alle diese AutorInnen einer mittlerweile schon ganzen Flut von Marxaktualisierungen bei all ihrer Verschiedenheit ein Merkmal teilen würden: Alle haben sie Karl Marx offenbar nicht gelesen. Oder wenn vielleicht auch doch, dann haben sie ihn jedenfalls nicht verstanden.

Sonst müssten sie doch wissen, dass Kapital nicht dasselbe ist wie Reichtum und dass man die beiden Worte nicht umstandslos synonym verwenden kann, wie es die oben zitierten Experten in dem hier besprochenen Video ständig tun. Da gefallen sie sich doch tatsächlich in der bahnbrechenden Erkenntnis, Ungerechtigkeiten hätte es auch vor dem Kapitalismus schon gegeben. Ja, Wahnsinn! Und sie scheinen tatsächlich zu glauben, Marx hätte das nicht ebenfalls gesehen, und er hätte sich ausschließlich mit seiner Zeit und dem Aufkommen des Kapitalismus befasst und nicht auch mit sämtlichen anderen historischen Klassenverhältnissen und Klassengegensätzen?

Nur ein paar wenige Basics aus Marx, die man doch kennen sollte, wenn man Marx aktualisieren oder auch widerlegen oder einen neuen Zugang zu seinen Erkenntnissen eröffnen will: Schon im Feudalismus und auch schon vorher bildete sich parallel dazu („im Schoße des Alten“) in der Sphäre des Marktes und der freien Bürger eine neue Wirtschaftsweise heraus, die uns alle, die Armen wie auch die Reichen, bis heute bestimmt: der Kapitalismus. Mit der Französischen und den Folgerevolutionen im 19. Jahrhundert hat er die ihn hemmenden Fesseln des Feudalismus abgestreift und seinen Siegeszug über die Welt angetreten.

Seither ist die Herrschaft - und das wäre eine erste neue Qualität! - entpersonalisiert. Man steht jetzt also nicht mehr wie früher einem Lehnsherrn gegenüber, dem man sich unterwerfen oder dem man Widerstand entgegen setzen kann, sondern die Zwänge sind jetzt abstrakt und in jedem und jeder Einzelnen verinnerlicht, fast wie ein Naturgesetz: dass man etwa einer Arbeit nachgehen muss, wenn man etwas zu essen bekommen möchte; oder dass ein jedes Ding einen bestimmten Wert hat, der sich am Markt in einem Preis ausdrückt, und vieles ähnliches mehr.

Und wie es darüberhinaus und zu allem Überfluss auch noch kommt, dass die Wirtschaft in diesem speziellen System des Kapitalismus aus ihren inneren Gesetzmäßigkeiten heraus immerzu, immer, immerzu weiter wachsen muss - dieses wird von Marx im „Kapital“ penibel wissenschaftlich ganz genau analysiert und Schritt für Schritt herausgearbeitet.

Marx mag ja von mir aus auch hier und dort und an vielen Stellen und menschlich gesehen und politisch und zeitbedingt sowieso und was weiß ich sonst noch wo falsch gelegen sein. Aber die Bewegungsgesetze des kapitalistischen Marktes erkannt und dargelegt zu haben, wie sie uns alle auch weiterhin noch bis heute regieren, das kommt mindestens sehr nahe hin an die anderen ganz, ganz großen Entdeckungen in der Menschheitsgeschichte. Und in diesem wirtschaftsanalytischen Bereich ist von Marx entsprechend auch bis heute nichts, rein gar nichts widerlegt.

Jedenfalls sollte man das doch wenigstens kennen, denke ich, wenn man einen Film machen oder ein Buch schreiben will über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Wenigstens sollte man dann doch den Unterschied kennen zwischen dem Reichtum im Allgemeinen und dem Kapital, dem Besonderen, weil es besondere Mechanismen in Gang setzt. Ich würde ja auch kein Buch über die Grundlagen der Physik schreiben, ohne zum Beispiel Albert Einstein je gelesen zu haben.

Obwohl - vielleicht sollte ich das mal tun? „Einstein im 21. Jahrhundert“ - das wird sicher auch ein Bestseller, wenn ich so vorgehe, wie es in dem Video zum „Kapital im 21. Jahrhundert“ vorexerziert wird. Das ginge dann etwa so: -

Einstein hat ja mal gesagt: „Gott würfelt nicht!“ Er wandte sich damit wohl gegen die Quantentheorie, hab ich mal gehört. Weiters sagen alle Experten, dass er damit falsch gelegen ist. Denn in der Quantenphysik wird sehr wohl gewürfelt! Einstein lag also erwiesenermaßen falsch und taugt als Ganzes nicht zur Welterklärung. Seine Lehre hat aber wie alles einen wahren Kern, und der Kern unseres Einsteins im 21. Jahrhundert kann dann eigentlich nur lauten, da ja einer, der würfelt oder auch nicht, dazu doch in jedem Fall existieren muss: Gott existiert! Hat Einstein ja selber gesagt! Und der war erwiesenermaßen kein ganz dummer Mensch. Er konnte auch Geige spielen, hatte ein überdurchschnittlich großes Gehirn …

Verleger, bitte melden! Es ist erwiesenermaßen ein Erfolgsrezept. Der französische Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty hat auch seinen Bestseller, der Regisseur Justin Pemberton hat sein Video so gestrickt. Wir könnten ebenso an Einstein mitnaschen wie die es an dem ollen Marx tun. Man muss ihn dazu ja nicht gelesen haben.

09. März 2021

Karl Marx, die Dritte

„System Error“ von Florian Opitz

In meiner Besprechung des Videos „Aufschrei der Jugend“ vom 14. Februar hatte ich den mir an sich sehr sympathischen ProtagonistInnen des Films, den jungen Leuten der „Fridays for Future“-Bewegung vorgehalten, nach meiner Ansicht würden sie in ihrer Politik nur leider dem systemimmanenten Zwang zum unendlichen Wachstum im Kapitalismus noch nicht genügend Aufmerksamkeit schenken.

In meinem letzten Eintrag dann, vom 28. Februar, in meiner Kritik des Videos „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hatte ich den Autoren des Videos und des zugrunde liegenden Buchbestsellers ins Stammbuch geschrieben, dass es für eine kompetente Behandlung wirtschaftlicher Themen nicht ausreichen würde, die von Marx entwickelten Kategorien nur irgendwie im Munde zu führen. Man sollte sie dazu schon auch verstanden haben, war ich fortgefahren, weshalb es vielleicht ganz nützlich sein könnte, Karl Marx auch einmal selber zu lesen.

Und so war nun also dieser Zufallsfund beim Zappen für mich in einem weiteren Sinne schon „Karl Marx, die Dritte“ in letzter Zeit. Der Film war ziemlich gut versteckt: Gesendet wurde er auf alpha, mitten in der Nacht und eingebettet inmitten zahlreicher weiterer Wirtschaftsdokus, aber von der schlechteren Art, weil von Autoren, die Karl Marx wie üblich nicht gelesen haben.

Der notorische Wachstumszwang im Kapitalismus kommt nicht nur mal eben so vor am Rande des Videos „System Error“ von Florian Opitz. Nein, er ist nichts weniger als das Hauptthema und die Hauptfragestellung des Films. Und im Zuge der Vorrecherchen hat Opitz auch Karl Marx gelesen. Man kann es leicht daran erkennen, dass er mit klug eingeschobenen Karl-Marx-Zitaten jetzt gleich den ganzen Film strukturiert hat.

In einem Interview auf YouTube erklärt er, wie es dazu gekommen ist, und stellenweise argumentiert er dabei beinahe schon wortgleich wie ich in meinem letzten Blogeintrag: -


Von Minute 7:52 bis 9:35 spricht der Regisseur Florian Opitz beinahe schon wortgleich wie ich in meinem Blogeintrag vom 28.2. (vgl. u.) über seinen Zugang zu Karl Marx.

Vor einigen Jahren hatte Opitz eine Doku über die Superreichen in Deutschland gedreht. Über seinen Film „Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, mit dem er der ständigen Beschleunigung in der Wirtschaft und in unserem Leben auf den Grund gehen wollte, führte ihn sein Weg nun also zum Phänomen des Immer-immer-immer-immer-noch-weiter-wachsen-Müssens in der heutigen Wirtschaft, das er in seinem Film „System Error“ zum Thema machte. Der springende Punkt dabei ist ja, dass sie das, wenn sich nichts Grundlegendes ändert, auch dann noch weiter müssen wird, wenn alles Nötige (und Unnötige) schon lange vorhanden ist. Man kann dieses bei Marx nachlesen und bekommt es logisch dargelegt, Schritt für Schritt. Karl Marx hat diese Dynamik entdeckt, benannt und kritisiert. In dieser Hinsicht (und auch noch in dieser und jener anderen mehr) ist von ihm bis heute nichts, rein gar nichts widerlegt. - - -

Der Film ist leider auf YouTube und in den diversen Mediatheken nicht verfügbar. Gefunden habe ich nur die französische Fassung des Films, die aber doch in voller Länge: -


Gefunden habe ich den Film „System Error“ leider nur in der französischen Fassung, die aber doch in voller Länge.

Bevor es zu „Meinem Medientagebuch“ wurde, war mein Tagebuch ein …

Corona-Tagebuch

Corona-Zeichnung

„Corona“ (Victor Halb, Mai 2020)

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