Die Nürnberger Hefte, revisited
Was Nürnberg alles ist
(aus dem Literarischen Zeitvertreib Nr. 9, 07/98)
Nürnberg wurde schon nicht Kulturhauptstadt Europas des Jahres 1999. Sondern Weimar.
Also wäre Nürnberg wenigstens gerne Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2000 geworden. Nürnbergs Partnerstadt Krakau ist zusammen mit acht weiteren Städten Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2000. Der bayerische Kultusminister Zehetmair hat alles versucht: Erst ins Protokoll gedrückt, dass Krakau seine Partnerstadt Nürnberg in die Kulturhauptstadtfeierlichkeiten „einbringen darf“, sodann in einer Presseerklärung verbreitet, dass sich Nürnberg nunmehr per Krakau-Huckepack ebenfalls als Kulturhauptstadt Europas bezeichnen dürfe und den diplomatisch-milde formulierten Widerspruch der maßgeblichen Stellen tapfer ignoriert solange, bis von den neun Städten klipp und klar festgestellt und gemeinsam öffentlich erklärt wurde, dass sie Nürnberg nicht in ihren Kreis aufzunehmen wünschten. Nürnberg ist also nicht Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2000.
Macht nichts. Nürnberg feiert trotzdem.
Im Jahr 2000. Das Jahr 2000. Den 950. Jahrestag von Nürnbergs erster urkundlicher Erwähnung. Den 350. Jahrestag des fast vergessenen „Nürnberger Friedensmahls“. Den 100. Geburtstag seines Dichters Hermann Kesten. Den 100. Geburtstag seines 1. FC. Den 100. Geburtstag seiner Industrie- und Handelskammer. Die Feierlichkeiten sollen nach dem Willen einer Mehrheit von 63 % der Bürgerinnen und Bürger, die in einer Umfrage bei den Planungen mitreden durften, sowohl ernst-nachdenklich als auch fröhlich-ausgelassen gestaltet werden. (Was nicht einfach auszuführen sein dürfte.) Die Feierlichkeiten werden ganz deutlich machen: Nürnberg ist nicht nur Stadt der Bratwürste und Lebkuchen. Nürnberg ist auch die Stadt der Meistersinger, ist Musikstadt. Nürnberg ist Dürerstadt. Spielzeugstadt, Weihnachtsstadt. Kaiser-, Fahrrad- und Stadt des Erinnerns, des Friedens und der Verständigung. Das wird alles sehr deutlich werden im Jahr 2000, wenn das Jahr 2000 gefeiert wird. Den Abschluss der Feiern wird ein „Zukunftskongress“ bilden, in dem es um die Zukunft des „Wirtschafts- und Industriestandorts Region Nürnberg“ gehen wird.
Einer Region, die bekanntlich und wie aus einer dicken bunten Beilage der Nürnberger Nachrichten hervorgeht, schon jetzt nicht mehr nur ein Raum für starke Köpfe, sondern eine Kompetenzregion ist. Und nicht irgendeine, sondern eine Kompetenzregion, in der alle an einem Strang ziehen, also auch eine Konsensregion. (Zu der Siemens-Chef Pierer im Übrigen auch gar keine Alternative sieht.) Laut jener Beilage ist für DGB-Chef Weiniger ein Aufbruch zur Innovations- und Dienstleistungsregion erst noch zu bewerkstelligen, für andere soll Nürnberg ein Synonym für Existenzgründung werden und für wieder andere ein Traffic Valley. Wenn es stimmt, was eine Überschrift der Nürnberger Nachrichten verkündet – „Kompetenz reift heran“ –, dann ist dies alles für die Zukunft gar nicht mal ganz auszuschließen. Ja, wir sind guter Hoffnung, denn Innovations- und Dienstleistungsregionen werden immer gebraucht und ein Traffic Valley z.B. am Wöhrder Talübergang wäre mal was Neues. Infrastrukturell ist die Region Nürnberg für den Konkurrenzkampf jedenfalls gerüstet: Der sechstgrößte Wirtschaftsraum der BRD ist jetzt schon eine Drehscheibe des Güterverkehrs. Eben erhielt sein Flughafen einen 1. Preis in der Kategorie von Flughäfen seiner Größe. Dass Nürnberg zudem Hafenstadt ist, ja dass sich sein Hafen eines Vergleichs mit denen von Erlangen und Bamberg nicht zu schämen braucht, ist außerhalb leider noch viel zu wenig bekannt. Mit solchen Pfunden muss aber gewuchert werden, will Nürnberg sich die Chance bewahren, siegreich aus der Konkurrenz der Regionen hervorzugehen.
Das haben die Verantwortlichen sehr wohl erkannt. Sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und dies laut vernehmlich zu tun, ist das Gebot der Stunde. Nürnbergs Stärken liegen vor allem im Bereich dessen, was in Kreisen potentieller Investoren und zuzugserwägender Manager als „weiche Standortfaktoren“ bezeichnet wird. Nürnbergs nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg originalgetreu wie in dem Riefenstahl-Film wiederaufgebaute Stadtmauer ist wegen ihres touristischen Reizes solch ein „weicher Faktor“. Offiziell scheiterte Nürnbergs Bewerbung um eine Auszeichnung seiner Stadtmauer als UNESCO-Weltkulturerbe nicht einmal an seiner Funktion als des Reiches Schatzkästlein im Nationalsozialismus, sondern daran, dass es erstens besser erhaltene und tatsächlich originalgetreue Stadtmauern gebe und zweitens europäische Bauwerke in der Liste überrepräsentiert seien und nichteuropäische Bewerbungen deshalb vorerst bevorzugt behandelt würden. Aber einen Versuch, auf diesem Wege Gratis-Standort- und Tourismuswerbung zu erhalten, war es wert. Zumal die Gästezahlen aus dem Ausland dramatisch sinken (aus den Niederlanden z.B. minus 29 Prozent!), was vielleicht daran liegt, dass Nürnberg sicherste Großstadt Deutschlands nur um den Preis werden konnte, dass auch Kurzbesucherinnen und -besucher dieser Stadt mit Sicherheit Polizeikontrollen an sich oder anderen erleben werden, was sich wohl herumgesprochen hat und jetzt vor Fremdenverkehr abschreckt. Der neben dem touristischen Ambiente weitaus gewichtigere „weiche Standortfaktor“ ist aber das rege kulturelle Leben der Stadt. Nürnberg ist eine Hochburg der Rockmusik. Das zieht zwar Scharen unangenehmer Zeitgenossen an. Die Rockmusik selbst ist aber mittlerweile frei von Subversion und harmlos. Nürnberg ist erstaunlicherweise eine Hochburg des Sports, wie der erwähnten Beilage der Nürnberger Nachrichten zu entnehmen ist. Nürnberg muss ein Eldorado der Theaterschaffenden sein. Wo sonst könnte sich eine Truppe wie die „Kleine Komödie“ halten, die von sich sagt, sie wolle ein Spiegel sein, „aber einer, in dem sich die Leute nicht selbst erkennen, sondern höchstens ihren Nachbarn“. Nürnberg hat nach derjenigen auf dem Berliner Alexanderplatz die zweitgrößte Videowerbetafel der Republik, die aber nicht wie jene im Verhältnis zur Größe des Platzes wie ein Fernseher wirkt, sondern den ganzen Nürnberger Plärrer richtig schön zustellt. Nürnberg ist Stadt der Vertriebenen: Jedes Jahr zu Pfingsten pilgern 100.000 Deutsche sudetentschechischer Herkunft nach Nürnberg und führen hier ausgestorbene Folklore vor. Deshalb wäre Nürnberg auch fast Stadt des zentralen Denkmals „Flucht und Vertreibung“ geworden, was vorerst aber an einem „unwürdigen Gezerre“ gescheitert zu sein scheint über den Aufstellungsort und den Inhalt des Denkmals, der angeblich den geschichtlichen Kontext ausblende und die Menschenrechte exklusiv einer Gruppe zubilligen würde. Nürnberg ist Stadt der Bücherfreundinnen und -freunde. Niemals wieder darf auf dem Nürnberger Hauptmarkt (vormals Adolf-Hitler-Platz) ein Künstler mit einem „Brandfleck“ an die dort stattgefundene Bücherverbrennung erinnern! Nürnberg ist vor allem auch Stadt der Internationalen Briefmarkenausstellung 1999. Und Stadt der Bundesgartenschau des Jahres 2009.
Diese Fülle an „weichen Standortfaktoren“ sollte in der Lage sein, das unselige Spiegel-Verdikt von der „langweiligsten Großstadt Deutschlands“ endlich in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Fülle an „weichen Standortfaktoren“ dürfte auch den harten auf der Negativseite aufwiegen, dass immer noch nicht geklärt ist, ob die in einer Studie festgestellte in Nürnberg besonders hohe Zahl tödlich verlaufender Herzinfarkte auf übermäßigen Bratwurstkonsum, auf unbedachte Existenzgründungen oder auf eine sonstige noch unbekannte Nürnberger Eigenart zurückzuführen ist. Trotzdem wäre es völlig unangebracht, wenn sich die Verantwortlichen nun zufrieden zurücklehnen würden.
Vor allem sollten sie unermüdlich auch weiterhin Nürnbergs Trumpfkarte im Image-Spiel setzen, die der Stadt wegen ihrer besonderen Rolle in der Vergangenheit ganz ohne eigenes Zutun in die Hände fiel: Nürnberg war – dafür ist es in der ganzen Welt bekannt – Stadt der Nürnberger Prozesse, in Folge derer die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Menschheit von einigen der Hauptverbrecher des Nationalsozialismus befreiten. Dafür schuldet die Menschheit Nürnberg bis heute Dank. Also war Nürnbergs Bewerbung um den Sitz des geplanten Internationalen Menschenrechtsgerichtshofes der Vereinten Nationen naheliegend und auch deshalb nicht ganz aussichtslos, weil den Zuschlag um der Glaubwürdigkeit des Gerichts willen sicher keine Stadt bekommen konnte, in der die Menschenrechte mit Füßen getreten werden oder gar ein Fremdwort sind. Nürnberg aber gehört zu den Ortschaften, in denen sie sehr wohl ein Begriff sind, was schon durch Existenz und Verleihungen des „Nürnberger Menschenrechtspreises“ zu beweisen wäre. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit sollte diese Trumpfkarte Nürnbergs im Image-Spiel so eingesetzt werden, wie es der Rechtsreferent Frommer bei dieser vorgemacht hat, als er feststellte: „Keine andere Stadt in der Welt ist dafür so geeignet wie Nürnberg. Nürnberg hat als Stadt der Menschenrechte, des Friedens und der Völkerverständigung in wachsendem Maße einen hervorragenden Ruf“. Oder auch Nürnbergs Oberbürgermeister Scholz, als er die Referenzen seiner Stadt auf die knappere Formel einer „Stadt der Menschenrechte“ brachte. Oder die CSU-Abgeordnete Blank, als sie betonte, dass Nürnberg „wieder in wachsendem Maße international den Ruf als Menschenrechtszentrum“ genießt. Oder wie es der Verband der Konferenzdolmetscher nachgemacht hat, als er darauf verwies, „dass Nürnberg angesichts seiner Geschichte und seiner bewussten Auseinandersetzung mit dieser Geschichte der ideale Standort für solch einen Gerichtshof“ wäre. (Worauf Nürnbergs Oberbürgermeister Scholz zufrieden feststellen konnte: „Alle deutschen Stimmen sprechen für Nürnberg. Die Bewerbung tut der Stadt gut“ und seinen berühmten Ausdruck prägte von Nürnberg als einer „Stadt der Menschenrechte“.) Oder wie es die Abgeordnete Schweder tat, als sie der Öffentlichkeit berichtete, der bayerische Landtag sei zur Erkenntnis gekommen, dass „nach dem Krieg in dieser Stadt ein neues Verständnis des Völkerrechts und der Menschenrechte entstanden ist“. Oder auch der Nürnberger Oberbürgermeister Scholz, als er in einem Zeit-Interview mit der Überschrift „Alles spricht für Nürnberg“ die Stadt sehr prägnant und treffend charakterisierte als eine Stadt der Menschenrechte. So muss das laufen!
Es war auch kein Beinbruch, dass die Bewerbung Nürnbergs dann nie stattfand, nachdem Vorsondierungen ergeben hatten, dass Nürnberg keine Chance auf den Zuschlag gehabt hätte und Außenminister Kinkel es vorzog, auf sie zu verzichten, weil ihr Scheitern das deutsche Ansehen und dasjenige Nürnbergs hätte beschädigen können. Wiederum wurde nicht schonungslos begründet, dass Nürnberg ohne Chance sei, weil es Stadt des Ehrenbürgers Diehl sei oder etwa weil seine Bürgerinnen und Bürger eine Rückbenennung des „Platzes der Opfer des Faschismus“ in „Wodanplatz“ gefordert hätten und in ihrer großen Mehrheit den Zuschlag in der Standortfrage dieses Gerichts als Einverständnis des Auslands auffassen würden, es sei nun der Moment gekommen für den ersehnten Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit. Nein, wiederum wurde sehr diplomatisch-schonend begründet, der einzige Mitbewerber, Den Haag, verfüge bereits über ein ähnliches Gericht, Erfahrung und die nötige Infrastruktur. Die Bewerbung hat aber, obgleich sie also nie stattfand, wie Nürnbergs Oberbürgermeister Scholz zutreffend feststellte, seiner Stadt gleichwohl zu weiterem ungeheuren Ansehen verholfen.
Und ganz zu Recht! Denn welche andere Stadt unterhält eine „Straße der Menschenrechte“, an der die SchulkameradInnen, NachbarInnen und LehrerInnen derjenigen ihrer Bürger, die demnächst abgeschoben werden sollen, (denn Nürnberg ist auch eine Stadt der Vertriebenen, aber das wurde bereits erwähnt), in Ruhe unter dem Motto: „Das sind doch Nürnberger wie wir“ demonstrieren können, ohne dabei von der Betriebsamkeit etwa eines Ausländeramtes in unmittelbarer Nähe gestört zu werden, wie es bei Demonstrationen in anderen Städten immer wieder vorkommt? Welche Stadt sonst unterhält solch eine praktische Einrichtung, die indirekt also auch zum reibungslosen Vollzug solcher Maßnahmen des Ausländeramts beiträgt? Welche übrigens in Nürnberg in keinem Fall willkürlich, sondern dort besonders strikt nach den Buchstaben des Gesetzes angeordnet und vollzogen werden. Weil Nürnberg einen Ruf zu verlieren hat, den es so aber bestimmt nicht los wird: Nürnberg ist und bleibt, um zu einem Ende zu kommen, vor allem auch die Stadt der Nürnberger Rassegesetze.