[ Juli 2008 ]
Aus der Serie „Vor zehn Jahren erschien …“
Vor zehn Jahren, im Juli 1998 erschien der Literarische Zeitvertreib Nr. 9.
Mit zwei Artikeln hatte ich in dem Heft meine „Anti-Uhren-Kampagne“ weitergeführt.
Der erste befasste sich recht langatmig mit einer ebenfalls recht langatmigen Titelgeschichte des Spiegel; der zweite versuchte anhand einer Besprechung der Fernsehreportage von Karl Simmering „Schneller als das Licht?“ in die sog. „Tunnelexperimente“, die damals gerade groß in Mode gekommen waren und in Physiker- und Philosophenkreisen für viel Verwirrung gesorgt hatten, ein wenig Licht zu bringen. Die beiden Texte unterhielten unglücklicherweise eine Menge an subtilen und weniger subtilen Querverbindungen, sodass sie nicht unabhängig voneinander verstanden werden konnten.
Und so war die bahnbrechende Entdeckung, die ich damals gemacht hatte – eine verblüffend einfache Lösung, erzielt mit nur ein wenig gesundem Menschenverstand und einer durchschnittlichen Schulbildung eines für viele Experten damals äußerst knifflig erscheinenden Problems – dann leider gut versteckt in mehreren Seiten von Spiegel-Bashing und im Kontext einer den Leuten, die es angehen konnte, sicher nur schrullig erscheinenden „Anti-Uhren-Kampagne“ in einem sehr, sehr randständigen, weil nur in einer Auflage von 50 Stück erschienenen Heft.
Doch zum Glück gibt es heute ja das Internet, und falls jene damalige Verwirrung unter den Physikern und Philosophen irgendwo immer noch weiter bestehen sollte, so könnte die moderne Suchmaschinentechnologie den betreffenden Leuten heutzutage ja helfen, jene von mir entdeckte verblüffend einfache Lösung auch in dem ganzen nun folgenden mehrseitigen Wust von Spiegel-Bashing und Anti-Uhren-Kampagne für sich herauszufinden.
Wie der Spiegel die Uhren entmachtet
Die erste Ausgabe des Literarischen Zeitvertreibs enthielt die utopische Kurzgeschichte „Die Anti-Uhren-Kampagne“. In den folgenden Ausgaben wurden penibel auch die kleinsten Anzeichen dafür aufgelistet, dass es der Herrschaft der Uhren über die Menschheit allmählich an den Kragen geht. Der Literarische Zeitvertreib Nr. 7 konnte dann auf 16 1/2 Seiten Vollzug melden: Dass da etwas im Busch sein musste, wenn nicht sogar ein kompletter Paradigmawechsel, war allein aus dem Umfang ersichtlich, in dem sich bis dahin das bürgerliche Feuilleton der Sache angenommen hatte. Im Folgenden soll nachgetragen werden, wie kaum vier Wochen nachdem sämtliche Medien das Phänomen „Zeit“ behandelt hatten, sogar die Wissenschaftsredaktion des Spiegel, welche unbestritten die Kompetenzregion schlechthin und gewissermaßen das Meta-Feuilleton ist, den Nachrichtenwert erkannte und realisierte in Form einer Titelgeschichte unter der Überschrift: –
„Die Entmachtung der Uhren“.
Der Artikel begann vielversprechend: –
Die Sonne senkte sich über die Barrikaden. Der König war gestürzt, der Pulverdampf verflogen. Da richteten die Aufständischen ihre Vorderlader auf ein neues Ziel: Sie beschossen die Turmuhren. Ein blindwütiger Elan hatte an diesem ersten Abend der französischen Julirevolution von 1830 die Rebellen erfaßt. … Diesmal galt ihr Angriff einem unsichtbaren und allmächtigen Feind. Die Rebellen hatten ein Lied auf den Lippen. Sie sangen von „Schüssen auf die Zahnräder, um den Tag anzuhalten“. … Das alte Regime hatten sie schon hinweggefegt. Nun sollte auch die äußerste Tyrannei fallen: Die Herrschaft der Zeit.
Genauer müsste da stehen: Die Herrschaft der Uhrzeit. Deren lange Tradition der Spiegel sehr hübsch beschreibt wie folgt: -
… hat eine Erfindung aus dem alten Ägypten das westliche Zeiterleben geprägt – die Uhr … Wasser-Chronometer … Elf Jahrhunderte später hatte das antike Uhrmacherhandwerk schon große Fortschritte gemacht … gleichsam die erste Kuckucksuhr der Menschheit … Aber erst mechanische Uhren, die im 12. Jahrhundert nach Christus in den europäischen Klöstern auftauchten, verhalfen der Zeitmessung zum Durchbruch. Etwa 150 Jahre danach begann Papst Johannes XXII. zu ahnen, in welchem Maße der Takt der Chronometer das Leben der Menschen verändern würde … Johannes hatte erkannt, daß Herrschaft über die Zeit Herrschaft über Menschen bedeutet … Die nachhaltigste Umwälzung der Neuzeit, die industrielle Revolution, wäre ohne einen technischen Durchbruch bei der Zeitmessung undenkbar gewesen: Nicht Dampfmaschinen, sondern Uhren in der Tasche jedes Arbeiters … erlaubten es, die Menschenscharen in den immer größeren Fabriken der Gründerzeit zu koordinieren …
Genau diesen Effekt der Uhren scheinen die Julirevolutionäre vorausgeahnt und unterbinden gewollt zu haben. Manchmal stelle ich mir vor, wie z.B. die Produktion des Spiegel heute wohl aussähe, hätten sie sich durchgesetzt.
167 Jahre später ist dieser Traum wieder auf der Tagesordnung. Die Wissenschaft hat sich seiner angenommen. … Die Aufregung entzündet sich an Experimenten, von denen viele erstaunlich simpel sind. Aber seit Jahrzehnten war niemand auf die Idee gekommen, sie auszuführen. … Erst mußten ein paar Physiker mit Rohrstücken Furore machen, die aussehen, als hätte ein Klempner sie im Labor vergessen. Durch diese Stutzen wollen die Forscher, gestandene Professoren, im vergangenen Jahr Mikrowellen-Signale mit Überlichtgeschwindigkeit gefunkt und damit die Relativitätstheorie überlistet haben. In seiner großen Lehre von der Allmacht der Lichtgeschwindigkeit hatte Albert Einstein solches Treiben mit gutem Grund für unmöglich erklärt: Wer es fertigbrächte, mit überlichtschnellen Strahlen in die Welt zu leuchten, der könnte theoretisch die Zukunft erblicken. Dennoch, ohne letzten Endes zu verstehen, was sie tun, vermessen die Physiker plötzlich Erscheinungen, die alle Züge des Paranormalen tragen: Laserlicht, das sich überlichtschnell ausbreitet; Partikel, für welche die Zeit bei bloßem Hingucken gleichsam einfriert; Teilchen, die den Ausgang einer Röhre verlassen, bevor sie am Eingang hineinfliegen … Sind die Schranken der Zeit überwindbar? Ist die Relativitätstheorie … nur noch ein „wunderschönes Fossil“? … Könnten Zeitreisen dereinst so alltäglich werden wie das Fahren mit der U-Bahn?
Und vor allem: Wann fährt die U-Bahn ab? Und wann kommt sie an? Wie bitteschön soll ich das ohne Uhr wissen? Wann ist Redaktionsschluss? Kommt der Spiegel irgendwann heraus, bevor ich etwas hineingeschrieben habe? Fragen, welche die Leute in der Wissenschaftsredaktion des Spiegel sichtlich schwer bewegen und unbeantwortet bleiben müssten, sollten tatsächlich eines Tages die Uhren entmachtet werden. Es wäre nicht auszudenken!
Wie Tunnelbauer auf beiden Seiten eines Bergmassivs nähern sich zwei Forschergemeinden dem Phänomen „Zeit“ von entgegengesetzten Ausgangspunkten. Die einen, die Astrophysiker, fangen mit Röntgensatelliten die Signale von Pulsaren auf, die genauer ticken als die meisten irdischen Uhren… Die anderen, die Biologen, verfolgen die Winkelzüge der Zeitwahrnehmung im menschlichen Gehirn.
Die einen entmachten die irdischen Uhren also, indem sie besser geeichte im All untersuchen, von der anderen Seite aus wird das Massiv der Uhrenherrschaft von den Biologen folgendermaßen unterhöhlt: –
Forscher haben genetisch programmierte Uhren entdeckt, natürliche Chronometer, die jedem Wesen und sogar jeder einzelnen Zelle den Lebenstakt schlagen. … Indem die Biologen in Genen und Gehirnen nach inneren Uhrwerken fahnden, entzaubern sie auch die Zeit. … Sicher ist nun, daß biologische Stundengläser existieren. … Die Forschergemeinde … belächelte jene wenigen Kollegen, die nach inneren Uhren suchten. … daß Mimosen ihre Blätter exakt im 24-Stunden-Rhythmus auf- und zuklappen … Auch im Tierreich gibt es Anzeichen dafür, daß jede Kreatur, von einer inneren Uhr gesteuert, … –
An dieser Stelle sei kurz daran erinnert: Es geht um die Entmachtung der Uhren.
… Ein Hirnareal zwischen den Ohren arbeitet wie eine natürliche Eieruhr. … Von dort aus dirigiert der Chronobiologe Gene Block das Clock Genome Projekt. … aus dem Großhirnboden eines Hamsters herauspräpariert … sendet es elektrische Ströme … genau im Rhythmus von 24 ½ Stunden… Offenbar dient das Organ … als körpereigener Wecker… die Bio-Uhr… Dieser natürliche Zeitgeber arbeitet bis auf ein Prozent genau: Während einer Nacht beträgt die Gangabweichung weniger als fünf Minuten. … Nicht nur im Hirn … glitzerten die Zeitgene. Sie funkelten auch in den Fühlern und sogar im Darm. Sitzen dort Nebenuhren? … Die Stoppuhr zwischen den Ohren … Wie in einer Sanduhr tropft aus einer Hirnstruktur … Computertomographien sollen den Gang der Uhr im Kopf aufzeichnen. … zerhacke das Gehirn die Zeit in Häppchen von dreißigtausendstel Sekunden Dauer… die Experimente jener Biologen, die nach der inneren Uhr suchen ... Uhrgene… –
Fassen wir die Erkenntnisse aus der Spiegel-Titelgeschichte kurz zusammen: Um überlichtschnelle Phänomene zu erfassen, würden Uhren benötigt, die sehr genau pulsieren sollten, aber nicht wie Pulsare, denn diese pulsierten in einem Maße „genauer als die meisten irdischen Uhren“, dass die Zeit nicht mehr als gleichförmiger Strom, sondern in Form von unterschiedlichen Brocken daherkomme, was mit unseren Vorstellungen von messbarer Zeit de facto nicht zu vereinbaren sei. Die biologischen inneren Uhren dagegen würden in der Gangabweichung gegenüber den Armbanduhren der Spiegel-Redakteure je nach Lebewesen variieren zwischen knapp fünf Minuten pro Nacht und einer halben Stunde am Tag. Gäbe es ein Primat der Natur, sie könnten ihre Uhren tatsächlich wegschmeißen. Dies aber würden uns auch unsere „Uhrgene“ verbieten und somit dafür sorgen, dass auch weiterhin die reibungslose Produktion des Spiegel sichergestellt sei und eines vorerst garantiert nicht auf der Tagesordnung stehen dürfte:
Die Entmachtung der Uhren.
Wie die Physik die Uhren entmachtet
„Schneller als das Licht?“ war der Titel jener wiederholt im Rahmen der „Space-Night“ des Bayerischen Rundfunks gezeigten Reportage von Karl Simmering, in der es um die „Tunnelexperimente“ am 2. Physikalischen Institut in Köln ging und die in die oben behandelte Spiegel-Titelgeschichte Eingang fand in Form von „Erscheinungen, die alle Züge des Paranormalen tragen“, festgestellt von „gestandenen Professoren“, die etwas vermessen, „ohne letzten Endes zu verstehen, was sie tun“. Nicht nur laut Spiegel, auch in Simmerings Reportage scheint das tatsächlich so zu sein. Wie gut, dass die Problematik in meine Kompetenzregion fällt und ich hier den Schleier des angeblich Paranormalen zu lüften in der Lage bin.
Die Versuchsanordnung war folgende: Zunächst wurde gemessen, wie schnell sich Mikrowellen ungehindert über eine Strecke von sagen wir einen Meter ausbreiten. Eine Stoppuhr war also zu installieren. Dass das Messergebnis von vornherein feststand, da sich Mikrowellen bekanntermaßen mit Lichtgeschwindigkeit, also um 300.000 Kilometer in der Sekunde ausbreiten, erleichterte die Eichung der Stoppuhr ungemein. Das Messergebnis war dann, dass sich Mikrowellen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Dann wurde auf einem Teil der Strecke von sagen wir einem Meter eines jener Rohrstücke installiert, die aussehen, als hätte sie der Klempner im Labor vergessen, die Mikrowellen durch diesen Zylinder „getunnelt“ und die Messung wiederholt. Das Experiment schlug fehl. Da die Mikrowellen sich sozusagen wellen wollen, dabei aber durch den Stutzen gehindert wurden, kam an seinem Ende erstens nur Müll heraus und zweitens von einer zu geringen Menge, um die Stoppuhr zum Anhalten der Zeit zu veranlassen. Daraufhin wurde das in den „Tunnel“ geschickte Signal solange verstärkt, bis die Sensoren der Stoppuhr auf das austretende reagierten. Das die Fachwelt verblüffende Ergebnis der Messung, welches später ebenso eintrat, als Lichtteilchen durch teildurchlässige Spiegel „getunnelt“ wurden, war, dass die „getunnelten“ Signale die Stoppuhr nach einer kürzeren Frist anhielten als sich frei und mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitende.
War somit Einsteins Relativitätstheorie mit ihrem Dogma von der absolut zulässigen Höchstgeschwindigkeit des Lichts widerlegt? Die einschlägigen Tagungen sind überlaufen, neben Physikern finden sich Philosophen ein und diskutieren hitzig mit darüber, wie die Messergebnisse zu interpretieren seien. Experten beider Lager kamen auch in Simmerings Reportage zu Wort. Dass Einstein sich nicht mit dem „Tunneln“, sondern mit ungehinderter Ausbreitung von Wellen beschäftigt hätte und somit nicht widerlegt sei, leuchtet spontan ein, obwohl das Argument bemüht wirkt und als wären die anderen für Einstein ausgegangen. Dagegen bestechen die Visionen des tunnelnden Lagers, welches gedenkt, die bereits widerlegte Relativitätstheorie Einsteins gründlichst zu demontieren, indem es auf den Experimenten auf- und sie in Berkeley ausbauen will und damit rechnet, mit großen Energiequellen, sehr genau geeichten Stoppuhren und geeigneter Beschaffenheit des „Tunnels“ nicht nur zwei- oder 4,7-fache Lichtgeschwindigkeit (wie bisher gemessen) erreichen zu können, sondern sogar unendlich große Geschwindigkeit und darüber hinaus eine negative, die das Signal eher aus dem Tunnel aus- als in ihn eintreten lassen würde. Das wäre dann in der Tat ein Effekt, der „alle Züge des Paranormalen“ trüge, insofern er das Prinzip von Ursache und Wirkung ad absurdum führte.
Freimütig will ich einräumen, dass mich Simmerings Reportage spontan eher der Faszination des Gedankenschwurbels und den schwärmerischen Einstein-Widerlegern zuneigen ließ als den trocken-konservativen Verteidigern seiner Theorie. Dies jedoch nur, bis ich beim dritten oder vierten Betrachten des Films auf jene Stelle aufmerksam wurde, in der es um verschiedene Versionen des Versuchsaufbaus und des „Tunnels“ geht und ganz nebenbei erwähnt und also nicht absichtlich kaschiert wird, dass die Länge des „Tunnels“ keine Rolle spiele, da in diesem ohnehin aus unerfindlichen Gründen keine Zeit vergehe. Mit anderen Worten: Die Spuren des ursprünglichen Signals, ein verschwindend geringes Rauschen, welches nur noch wenig mit jenem gemein hat, verlässt sofort oder, wie die Wissenschaft zu sagen pflegt, „instantan“ den „Tunnel“. Nun ließe sich trefflich lästern über den wissenschaftlichen Einsatz von Stoppuhren zur Messung von instantanen Effekten, von Effekten also, die nach exakt 0,0 Sekunden eintraten, während die weniger exakt geeichten oder bedienten Stoppuhren Fristen anzeigten, die mal nur auf zweifache, dann wieder auf bis zu 4,7-fache Lichtgeschwindigkeit im „Tunnel“ schließen ließen. Doch das Problem geht über das der Messungenauigkeit hinaus. Es liegt darin, dass mit dem Beweis der Existenz von an anderer Stelle instantan eintretenden Effekten ein „Phänomen“ aufscheint, das mit dieser kapitalistischen Welt der Effizienz durch die Uhrenmacht und mit ihrer Wissenschaft, die so vermessen ist, zu glauben, alles vermessen zu können, schlicht inkompatibel ist. Wie wäre es sonst möglich, dass „gestandene Professoren“ darüber streiten, ob die Lichtgeschwindigkeit überschritten wurde, wenn ein Ziel nach 0,0 Sekunden erreicht wurde, da doch Geschwindigkeit definiert ist als Strecke geteilt durch Zeit und jedes Schulkind wissen muss, dass etwas durch Null zu teilen regelmäßig ein „Setzen! Sechs!“ zur Folge hat? Es ist diesen „gestandenen Professoren“, die tatsächlich herumvermessen, „ohne letzten Endes zu verstehen, was sie tun“, offensichtlich ganz und gar unvorstellbar, dass es Wirkungen gibt, die anderswo dermaßen sofort eintreten, dass ihre aufwendigsten Apparaturen nicht in der Lage sein werden, sie vor der Ursache, also sozusagen noch soforter zu erzeugen. Gern lasse ich mich auf Gedankenspiele von negativen Zeiten und Geschwindigkeiten ein und ließe ich mich von ihrer Existenz überzeugen. Aber von einer Physik, deren Koryphäen in Berkeley lehren und dort Geschwindigkeiten errechnen, indem sie durch Null dividieren, ist diesbezüglich nicht viel zu erwarten.
Nach alltäglichem Sprachgebrauch wäre die Titelfrage von Simmerings Reportage – „Schneller als das Licht?“ – durchaus mit „Ja“ zu beantworten, insofern etwas, was sofort irgendwo erscheint, „schneller“ ist als erschiene es auch nur nach kurzer Frist. Es ist wie mit dem Hasen und dem Igel. Die Physik dagegen sollte sich an ihr mühsam erarbeitetes Regelwerk halten, nach dem „schneller“ eine Steigerung von Geschwindigkeit ist und also ein instantan auftretender Effekt, weil ihm zur Geschwindigkeit der Aspekt der messbaren Zeit fehlt, weder „langsamer“ noch „schneller“ sein kann. Sie sollte Einsteins Relativitätstheorie in souveränerer Weise gegen Instantanes in Schutz nehmen, als in Simmerings Reportage geschehen, indem sie sie dem Bereich von messbaren Zeiten und Geschwindigkeiten zuordnet und andererseits bei der Erforschung des Instantanen auf die Anwendung von Uhren tunlichst verzichtet. Einige der größten Errungenschaften der Wissenschaft verdanken wir der Methode von Versuch und Irrtum. Die Anwendung von Uhren bei den Tunnelexperimenten entsprach diesem Verfahren und war so gesehen legitim, mag sie nun einem engstirnigen Weltbild entsprungen sein oder nicht. Immerhin besteht so vielleicht die Möglichkeit, dass die Physik ihren Irrtum bemerkt und auf ihm aufbauend versucht, sich solchen „Phänomenen“ auf andere Weise zu nähern.
Sie tut es bereits. In Innsbruck wurde ein Experiment durchgeführt, das auf Uhren ganz verzichten konnte. Dabei wurde ein Lichtstrahl an einem Kristall „gespalten“ und festgestellt, dass wenn der eine der Folgestrahlen an einem Prisma oder weiteren Lichtstrahl „umpolarisiert“ wurde, der andere aus rätselhaften Gründen in identischer Weise seine Polarisierung änderte. Wenn die Innsbrucker Forscher betonen, der Weg oder die Entfernung spielte dabei keine Rolle, haben sie entweder unlogischerweise noch die messbare Zeit im Kopf, die es braucht, diese Entfernung zu überbrücken oder sie wollen damit in ihrer Art ausdrücken, dass es sich um einen instantan eintretenden Effekt handelt. Letzteres wäre logischer, da der Weg ja eben keine Rolle spielt.
Weiter so! Wenn die Physik sich von verschiedenen Seiten instantan eintretenden Effekten annähert oder anders ausgedrückt der in ihrem Weltbild nicht mehr verankerten Erkenntnis, dass alles mit allem irgendwie zusammenhängt, dürfte sie schon bald Anachronismen über Bord zu werfen in der Lage sein wie zum Beispiel ihre absurde Behauptung, im „Tunnel“ vergehe keine Zeit, wo es sich doch nur um die messbare Zeit handelt, die in dieser Versuchsanordnung nicht vergeht und ihr seit Jahren aus ihrem Teilbereich der Quantenphysik klar sein sollte, dass die Versuchsanordnung das Ergebnis milde ausgedrückt „beeinflusst“. Wenn die Physik sich von verschiedenen Seiten instantan eintretenden Effekten annähert, sollte sie irgendwann auch an den Punkt kommen, von ihrer Ideologie insgesamt Abstand nehmen zu können, Zeit sei objektiv und messbar. Selbst jener erscheint ihr dann nicht mehr ganz unerreichbar zu sein, an dem sie die Möglichkeit bekäme, selbst mitzuhelfen, die Folgen ihrer schwerwiegendsten Irrtümer zu beseitigen. Dieser Weg, den die Physik einschlagen sollte, mag dem Renommee der Uhren auf Dauer schlecht bekommen und steinig sein, doch ihr wissenschaftlicher Objektivitätsanspruch verpflichtet sie, ihn zu gehen und ihr Energieerhaltungssatz mag sie in Phasen des Zweifels am Sinn des Ganzen trösten, dass es eine verlorene Liebesmüh’ niemals geben kann.
Doch bis sich in der breiten Masse des Abendlandes ein besseres Verständnis der kosmischen Zusammenhänge und des Wesens der Zeit (vielleicht als „System von Zwängen“?) durchsetzen wird, ist der Weg noch weit. Diese Tatsache ist empirisch zu belegen in einem Experiment, das wissenschaftlichen Kriterien genügt, weil es jederzeit wiederholbar ist. Nehmen Sie ein Exemplar der Spiegel-Ausgabe 1/98 und lesen Sie die Titelgeschichte „Die Entmachtung der Uhren“ auf den Seiten 92 bis 101 aufmerksam durch. Sie werden Pulsare finden, deren Zeiterleben ein sehr seltsames ist, aber auch biologische Taktgeber und „Tunnelexperimente“ mit instantan auftretenden Effekten, die aber nicht als solche bezeichnet werden. Lassen Sie die brillanten Formulierungen auf sich wirken! Lassen Sie sich von der Faszination anwehen, die aus der Verwirrung beim Lesen entsteht! Versuchen Sie nicht, das alles auf einen Nenner zu bringen! (Darum geht es hier nicht.) Wenn Sie alles über „die Entmachtung der Uhren“ von Anfang bis Ende sorgfältig gelesen haben, blättern Sie in diesem Spiegel 43 Seiten weiter. Egal, ob Sie schnell geblättert haben oder langsam, Ihr gesunder Menschenverstand wird Ihnen sagen, dass dort auf den hinteren Rängen des Heftes die ganze Zeit über, sozusagen instantan, ein Artikel mit der Überschrift „Spukhafte Wirkung“ zu finden war, in dem es um das geschilderte Innsbrucker Experiment geht. Bliebe nur, differenzierter zu erforschen, ob die im Spiegel versammelte populärwissenschaftliche Avantgarde der breiten Masse im Abendland den Zusammenhang beider Texte und Instantan-Experimente vorenthalten wollte, um die Entmachtung der Uhren hinauszuzögern, oder ob sie ihn selbst noch nicht kapiert hat.