Kunst in Zeiten der Globalisierung
Vortrag auf dem Kongress
„Spiel ohne Grenzen –
Zu- und Gegenstand der
Antiglobalisierungsbewegung“
am 24. Mai 2003 in München
(abgedruckt im Literarischen Zeitvertreib Nr. 10, 09/03)
Über den Zu- und den Gegenstand der Anti-Globalisierungsbewegung wurde nun auf dem Kongress schon vieles gesagt. Nicht so über die Globalisierung selber. „Globalisierung“ ist ja ein ganz oberflächlicher Begriff. Nämlich genau so, wie „Bergbau“ ein in die Tiefe gehender ist. Bevor ich also über „Kunst in Zeiten der Globalisierung“ sprechen kann, will ich erst noch ein bisschen von Globalisierung erzählen. Ich will euch aus meinem Leben erzählen; und davon, wie ich die Globalisierung erlebt habe.
Geboren wurde ich und aufgewachsen bin ich in Tumbalele. Tumbalele werden die wenigsten von euch kennen. Tumbalele ist ein kleines Dorf, von durchschnittlich 400 Seelen, (nur die der Lebenden mitgezählt,) im westafrikanischen Hinterland. Das Meer ist etwa 280 Kilometer entfernt; im weiten Umkreis gibt es keine schiffbaren Flüsse; die Rohstoffvorkommen in der Gegend sind nicht der Rede wert. Mit anderen Worten: Wir hatten, während ich da aufwuchs in den Sechziger und Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, unsere Ruh in Tumbalele.
Wir hatten keinen Strom, kein Telefon, kein Fernsehen. Niemand in Tumbalele wollte auch einen Fernseher haben, weil niemand wusste, was überhaupt ein Fernseher ist. Ganz zu schweigen von den vielen nützlichen und weniger nützlichen Gegenständen, von deren Existenz wir via Fernsehen später erst erfahren sollten, die aber ebenfalls damals noch niemand haben wollte bei uns in Tumbalele, weil wir eben noch nicht einmal wussten, was auch nur ein Fernseh überhaupt ist.
Vielleicht stellt sich mir das in der erinnernden Rückschau etwas idyllischer dar, als es in Wirklichkeit war. Aber im Grunde war bei uns alles paletti. Im Laufe der Zeit hatte sich alles bei uns hübsch harmonisch eingespielt. Ein jedes Menschenwesen hatte bei uns seinen Platz. Wir lebten im Einklang mit der Natur.
Ach, was hatten wir für schöne Frauen in Tumbalele! Starke Frauen. Mächtige Frauen. Kluge Frauen. Weise Frauen. Und weil unsere Frauen so stark, mächtig, klug und weise waren in Tumbalele, so war es nur folgerichtig, dass sie für alles Wichtige erst einmal die Verantwortung trugen und dass sie für quasi alles zuständig waren. Also für die zentralen ökonomischen Belange: Landwirtschaft und Wasserversorgung. Für die religiös-spirituellen sowieso. Dann noch für den Nachwuchs. Sie haben auch geschlichtet, wenn es einen größeren Streit gab. Im Grunde hatten sie bei uns in Tumbalele eigentlich alles zu entscheiden und bei allem das letzte Wort. (Das ist hier im Land ja offensichtlich nicht so. Tja, die Menschen haben eben x Möglichkeiten, ihr Zusammenleben zu organisieren. Wobei x > 1.) Ihr dürft nun aber aus der beträchtlichen gesellschaftlichen Stellung, welche die Frauen bei uns innehatten, nicht etwa schlussfolgern, dass die Männer in Tumbalele überhaupt nichts zu melden gehabt hätten. Die haben sich durchaus ebenfalls versammelt und eine Art politische Sphäre gebildet und miteinander palavert und klug dahergeredet und dabei sich und den anderen eingeredet, ebenfalls wichtig zu sein und über den Lauf der Welt etwas mitreden zu können. (Das war nun wieder sehr ähnlich wie hier auf dem Kongress.)
Am wichtigsten war der Mais. Unsere Griots, unsere Geschichtenerzähler wussten zu berichten, dass uns der Mais in grauer Vorzeit vom Himmel gefallen war. Aber was heißt schon graue Vorzeit? Es muss wohl so in der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein, als unsere Vorfahren auf der Flucht waren vor den weißen und auch den schwarzen Sklavenjägern, (die Rädelsführer waren aber immer die weißen,) von der Küste weg ins Landesinnere. Damals soll uns in der bergigen und relativ schwer zugänglichen Gegend von Tumbalele der Mais (der ja ursprünglich aus Amerika herstammt,) vom Himmel gefallen sein, und hatte damit unseren Ahnen angezeigt, wo sie sich niederlassen könnten. Der Mais also stellte unsere ökonomische Basis dar. Die Maisaussaat und -ernte bestimmten dementsprechend unseren Jahresablauf und den Rhythmus unseres Lebens. Und es hatte ganz den Anschein, als könnte es auf immer so weiter gehen.
Dieser immer gleiche Ablauf des Jahres – aus meiner heutigen Sicht war er vielleicht ein bisschen zu arm an besonderen Ereignissen. Es gab kaum Events. Gewiss, es gab da die durchschnittlich acht Feste während des Jahres, aus unterschiedlichen Anlässen, die meist ebenfalls wieder mit dem Mais zu tun hatten. Aber zu mehr als zu diesen acht, neun mittleren bis großen Festen, die eine gewisse Abwechslung in unser Leben brachten, langten unsere Ressourcen leider nicht hin.
Das größte Fest fand immer dann statt, wenn „die Elefanten durch waren“. Einmal im Jahr, gegen Ende der Trockenzeit, versiegte regelmäßig das Wasserloch der Elefantenherde, die bei uns in der Nähe wohnte. Sie machten sich dann auf den Weg zu ihrem Ersatzwasserloch – und kamen dabei mitten durch unser Dorf. Es war ein langjähriger Erfahrungswert, dass wir ihnen da besser aus dem Weg gingen. Besonders den Kühen, die Junge bei sich hatten, kamen wir lieber nicht zu nahe. Ja, das Leben in Tumbalele war durchaus nicht frei von Interessengegensätzen und Konflikten und es barg manchmal große Gefahren. Zuweilen wunderten sich Auswärtige, wenn sie bei uns zu Besuch waren, warum wir eine solch breite Schneise freigelassen hatten mitten durch unser Dorf. Aber freilich nur diejenigen, welche unseres Idioms nicht mächtig waren, denn sonst wussten sie ja, dass „Tumbalele“ in etwa übersetzt werden kann mit: „Wo die Elefanten tanzen“. Andere wieder haben sich gewundert, warum wir unser Dorf nicht in eine weniger gefährliche Gegend verlegt hatten. Aber dazu war es bei uns einhellige Meinung, dass dies nichts geändert hätte – die Elefanten würden immer da sein.
Und dann kam eines Tages die Straße bei unserem Dorf vorbei. Wir haben uns natürlich gefragt, was die da machen. Mitten in der Hitze rackerten die sich ab und machten einen schnurgeraden Streifen durch die Landschaft völlig platt. Zu was sollte das gut sein?, fragten wir uns. Für die Elefanten konnte das kaum gedacht gewesen sein, denn die flanierten auf ihrem Weg ganz nach Lust und Laune mal hier hin, mal dort hin. Dann kam aber schon bald die Regierung nach Tumbalele zu Besuch, und zwar mit Autos, wofür sich die Straße dann doch als recht zweckmäßig erwies. Die Regierung bot uns an, eine Schule für unsere Kinder zu bauen, damit sie rechnen, schreiben und lesen lernen könnten. Da war nichts dagegen zu sagen. Weiterhin würden sie uns einen Stromgenerator (incl. 25 Liter Gratisdiesel) sowie ein Fernsehgerät zur Verfügung stellen, Gerätschaften, deren Geräuschpegel sich übrigens auch als probates Mittel erwiesen habe, um die wilden Tiere von den Dörfern abzuhalten. Da regte sich dann ein erster Widerspruch von Seiten unserer GlobalisierungsgegnerInnen in Tumbalele: ein paar unserer BewahrerInnen, ein paar von denen, die sich grundsätzlich immer skeptisch zeigen gegenüber allem, was neu ist, widersprachen also und wiesen in der Versammlung darauf hin, dass es in der Gegend gar keine wilden Tiere gebe, jedenfalls keine, die wir vom Dorf weghalten müssten.
Solcherlei skeptische Einsprüche von Seiten der BewahrerInnen gegen jeglichen Wandel sind in Tumbalele von Stund an nie mehr ganz verstummt. Sie wurden dann wieder besonders laut, als uns die Regierung bei einer späteren Gelegenheit das Angebot unterbreitete, uns mit Personal, technischem Know-how und Gerätschaften dabei zu unterstützen, unseren Gemeindegrund exakt zu vermessen. Ganz typisch war es, wie da die Alten, mehr aus einem Gefühl heraus, gleich wieder scharf opponierten. Auf der anderen Seite bildete sich allmählich eine Fraktion in Tumbalele heraus, (welcher ich persönlich mehr zuneigte,) die dem Fortschritt aufgeschlossener gegenüber stand und die in diesem Fall z.B. argumentierte, es könne doch nicht schaden, zu wissen, über wieviel Hektar Gemeineigentum Tumbalele verfügte, und wenn die Regierung vielleicht noch ein Faß Diesel auf ihr großzügiges Angebot drauflegen würde, sodass wir unseren Fernseher auf's neue in Gang setzen könnten, (denn mittlerweile war uns das Diesel ausgegangen,) dann könnten wir im Gegenzug gerne zugunsten des Fortschritts unsere Beziehungen im Dorf ein wenig spielen lassen.
Diese Konflikte zwischen den BewahrerInnen und uns jungen Leuten nahmen auf Dauer an Härte zu. Aber auf längere Sicht – das liegt in der Natur der Sache – hatten die BewahrerInnen die schlechteren Karten. Und als dann eines Jahres eine Regenzeit unerklärlicherweise nicht wie üblich stattfand – sie fiel einfach aus; das hatte es noch nie gegeben! –, da hatten die BewahrerInnen gegenüber denen, die den Wandel prognostiziert und befürwortet hatten, ausgespielt. Wir sahen aber alle in Tumbalele, in beiden Lagern, ziemlich dumm aus der Wäsche, als da kein Regen mehr kam. Jedenfalls fassten zu dieser Zeit einige junge Leute aus Tumbalele, darunter auch ich, den Entschluss, der Straße in die Richtung zu folgen, aus der sie gekommen war, um, wie wir es im Fernsehen gesehen hatten, in der großen Stadt, in der Millionenstadt, (deren Name euch aber nichts sagen würde,) unser Glück zu machen.
„Kunst in Zeiten der Globalisierung“ war es in gewisser Weise schon, wie da die Millionen Menschen in dieser Stadt sich aus den verschiedensten Materialien ein Dach über dem Kopf zusammengebastelt hatten. Vom alltäglichen Überleben ganz zu schweigen. Denn da brauchtest du auf einmal Geld! Du musstest essen, trinken, auch mal in die Kneipe gehen, um Kontakte zu pflegen, und, und, und. Um an das nötige Geld zu kommen, konntest du dir z.B. eine Lohnarbeit suchen. Ab und an begab es sich, dass im Hafen ein Schiff ankam voll mit dem aussortierten Feinsten, was der hiesige Grüne Punkt zu bieten hatte. Dann gab es eine Zeitlang Jobs in der Plastikgranulatproduktion. Plastik einschmelzen und einfärben; Jobs von dieser oder ähnlicher Art gab's eigentlich immer. Es ist jedenfalls nicht so, wie es hier vielleicht manchmal den Anschein hat, dass die Arbeit allmählich verschwinden würde. Global jedenfalls nicht. Aus meiner eigenen Erfahrung würde ich schätzen, dass noch nie so viele Menschen in Lohnarbeitsverhältnissen standen als gerade eben jetzt. Nein, eine Arbeit zu finden, wo du in Plastikdämpfen herumsitzt, wäre kein großes Problem gewesen. Aber wir wollten uns ja nicht vergiften. Wir wollten unser Glück machen. Was gab es da sonst noch für Möglichkeiten? Zuhälter wollte ich nicht werden. Da ließ sich zwar gutes Geld verdienen, vor allem, wenn die Freundin Kontakte zu weißen Touristen oder Geschäftsleuten unterhielt. Aber dem standen gewisse ethische Grundwerte entgegen, die mir daheim in Tumbalele nicht nur von den Frauen eingebläut worden waren und die ich nicht so einfach ablegen konnte. Und auch nicht wollte. Man hat ja schließlich seine Identität! Weiterhin konntest du natürlich noch das Glück haben – das war dann fast wie ein Sechser im Lotto –, nachts in einer stillen Gasse einem Yowo allein zu begegnen. (Yowos sind jene Menschen, welche die zwei günstigen Eigenschaften besitzen: Dass sie erstens nach unseren Maßstäben mindestens ein Monatseinkommen mit sich herumtragen und zweitens eine so helle Haut haben, dass sie nachts meilenweit zu sehen sind. Was aber auch wieder von Nachteil ist – denn du musst dich dann ziemlich sputen, sonst ist er schon von anderen ausgeraubt.) Aber die Summe, die du von so einem Yowo erbeuten konntest, mochte uns astronomisch erscheinen – für 'ne richtige ursprüngliche Akkumulation, und das ist doch wohl damit gemeint, wenn es heißt: in der globalisierten Weltwirtschaft sein Glück zu machen, zu einer ursprünglichen Akkumulation also, um in die Lage zu kommen, andere für sich schuften lassen zu können, dazu hat es regelmäßig ebenso wenig hingelangt, wie diese durch das Ansparen von Lohn aus eigener Lohnarbeit zu bewerkstelligen gewesen wäre. Aber das brauche ich euch geschulten MarxistInnen hier auf dem Kongress ja nicht zu erklären.
Ich habe mich dann auf die Kunst geworfen. Dabei konnte ich auf die bekanntermaßen äußerst reichhaltige Tradition Afrikas in den verschiedenen Künsten zurückgreifen. Und es gibt da ja durchaus einen Markt für dieses gewisse Etwas, für dieses reizend Naive, was der Europäer an traditioneller afrikanischer Kunst sehr zu schätzen weiß. Aber um wirklich etwas zu werden – das musste ich erst noch lernen – brauchte ich einen Namen. Das war mir zuerst völlig fremd. Aber wie ich bis heute habe Kunst machen können, ohne bis heute über einen Namen zu verfügen, das erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal.
Denn ich muss jetzt noch die zweite Aufgabe erfüllen, für die mich die VeranstalterInnen des Kongresses engagiert haben: Seinen bisherigen Verlauf aus Sicht des Künstlers bewerten.
Zunächst einmal war ich sehr angenehm überrascht, als ich mitbekam, dass es hier ja, fast wie bei uns zu Hause, Griots, Geschichtenerzähler gibt. Leute, bei deren Vortrag es ebenso wie bei unseren Griots auf jede einzelne Silbe ankommt. Ich fand das sehr erstaunlich. Das hätte ich eurer Schriftkultur gar nicht zugetraut! Andererseits fand ich es dann aber ebenso verwunderlich, dass es bei Anderen nicht so ist. Aber vielleicht sollte ich nicht meine strengen Griot-Kriterien anlegen. Wir sind hier schließlich nicht auf einem GeschichtenerzählerInnen-Wettbewerb, sondern auf einer politischen Veranstaltung. Und mit der Materie des Politischen scheint es sich so zu verhalten, dass sie eben zum Teil eine betrübliche ist, und dass daraus eure Griots zuerst sich die Teile herauspicken, die auch noch irgendwie interessant und amüsant zu vermitteln sind, woraufhin noch ein Bodensatz übrigbleibt von Inhalten, denen nicht um's Verrecken noch ein Reiz im Vortrag abzugewinnen ist. Und da finde ich es dann doch sehr bemerkens- und anerkennenswert, dass sich in euren politischen Kreisen dann immer jemand noch findet, um auch diesen langweiligen, undankbaren Stoff, der ja gewiss vermittelt werden muss, noch zu vermitteln. Dieses Phänomen war für mich auch bei einigen Flugblättern und diversen anderen Erzeugnissen eurer Schriftkultur sehr schön zu beobachten.
Unter denen gab's aber auch recht hübsche. Bei einem dachte ich mir: Das ist etwas für mich. Da waren neben dem Titel drei Palmen abgebildet. Es kam aber dann nicht aus Afrika, sondern von den Bahamas. Durch die ganze Diktion des Textes fühlte ich mich an unsere Geschichte vom hässlichen Entchen erinnert. (Nicht zu verwechseln mit eurem gleichnamigen Märchen.) Das hässliche Entchen aus der Geschichte, die bei uns erzählt wird, hat eine äußerst unangenehme Stimme und quäkt nahezu unverständliches Zeug. Außerdem steht es mit seinem hässlich watschelnden Gang immer allen im Weg herum, wenn's mal schnell gehen muss. Hinterher erweist sich genau dieses dann aber immer als eine glückliche Fügung. Ich weiß zwar nicht, was bei eurem hässlichen Entchen schlussendlich die glückliche Fügung sein könnte, und selber weiß es das offensichtlich auch nicht, aber die Art auch, wie von manchem Entenfeind mit eurem Entchen umgesprungen wird – das war schon original wie bei uns daheim in der Geschichte.
Ansonsten fand ich natürlich noch die perfekte Organisation eures Kongresses äußerst beeindruckend! Geradezu erstaunlich! So etwas, das muss ich sagen, wäre in Afrika mit unserer bekannten chronischen Ineffizienz in der Tat absolut undenkbar gewesen!
Ich danke für eure Aufmerksamkeit!