Philosophie des Fußballs
(1. Versuch)

oder:
„64 Möglichkeiten, ein Fußballspiel zu betrachten“

Zur WM 2014 in Brasilien

… hatte ich mich dann also nach den Vorstudien in der Lage gesehen, eine Art von Philosophie des Fußballs anzugehen, und der Untertitel mit den „64 Möglichkeiten, ein Fußballspiel zu betrachten“ machte recht deutlich, dass ich es eher fragmentarisch-mehrschichtig anlegen wollte und weniger in Richtung auf ein in sich geschlossenes System.

Der Versuch erbrachte auch durchaus recht schöne Ergebnisse, die ich in der Zukunft - wie sich zeigen sollte - weiter verwenden konnte. Trotzdem muss er im Nachhinein als gescheitert angesehen werden. Denn unabsehbare Ausreißer wie das 7:1 der Deutschen gegen die gastgebenden Brasilianer und vor allem auch der schlussendliche Turniersieg der Ersteren hätten auch die denkbar offenste Form einer Philosophie des Fußballs an ihre Grenzen und darüber hinaus gebracht.

12. Juni 2014

Brasilien - Kroatien 3:1
(Eröffnungsspiel)



Ein Drama in vier Akten

Die Eröffnungsfeier zur WM in Brasilien ist schön bunt gestaltet. Sämtliche vier Grundfarben sind gleichmäßig häufig vertreten. Manchmal tun einem dabei die Augen weh.

Inhaltlich ist die Feier in vier Akte gegliedert. Das geht ja auch überhaupt nicht! Fünf Akte muss so ein Ding haben! Das hatte schon der brasilianische Altkicker Aristophanis festgelegt.

Aber Brasilien hat eben nicht mehr zu bieten als nur einen ausladenden Regenwald mit verschiedenen seltsamen Pflanzen und Tieren, weiter seine verschiedenen Leute und Völker, drittens diverse Musikstile und Tänze, und viertens noch den Sport. Von daher sind sich nur vier Akte ausgegangen.

Die Organisatoren haben trotzdem alles versucht, um noch auf fünf zu kommen. Sie hatten verschiedene Leute aus diversen Weltgegenden kontaktiert. Nur ein aufstrebendes Schlagersternchen hatte zugesagt. Als New-Yorkerin ist sie mit der kühlen Witterung Brasiliens nicht gut vertraut, und so ist sie jetzt - Jennifer Lopez ist ihr Name - recht unpassend gekleidet in ihren knappen Fetzen für den Auftritt. Prompt hat sie sich gleich erkältet und ist jetzt heiser. Ihr Gekrächze ist kaum zu hören, und so ist auch dieser Versuch der Organisatoren, noch einen fünften Akt mit dem Motto „Jemand kommt aus einer Kugel und singt ein Lied“ hinzubekommen, auf akustischer Ebene jedenfalls, kläglich gescheitert.

Vier Akte also nur. Der Vorteil ist: So ist die Eröffnungsfeier wenigstens auch schnell schon wieder vorbei. Schlussendlich will man bei so einer WM ja vor allem die Fußballspieler sehen.

Den Kontext mitbedenkend

Bevor das Eröffnungsspiel beginnt, macht mir die Freundin beim Abendessen Vorhaltungen. Wie könnte ich mich nur so für das Spektakel begeistern? Das Militär hatte im Vorfeld die Favelas brutalst gesäubert. Straßenkinder waren eiskalt abgeknallt worden. Dutzende Bauarbeiter waren beim Bau der Fußballstadien ums Leben gekommen. Noch während wir hier vor der Glotze sitzen, wird in ganz Brasilien gegen das Spektakel demonstriert. Fünf Milliarden Dollar hat Brasilien in die Spielstätten investiert, Geld, das jetzt fehlt für die Gesundheit und Bildung im Land.

Wie zur Bekräftigung werden in den Abendnachrichten „Fuck off, FIFA!“-Schilder in die Fernsehkameras gehalten, und in unmittelbarer Nähe des Stadions zünden Demonstranten brasilianische Fahnen an. Gerade jetzt, heißt es, würden Polizei und Militär überall im Land versuchen, die Proteste mit äußerster Härte zum Verstummen zu bringen.

Kurz gerate ich ins Schwanken. Doch dann fällt mir zum Glück eine Entgegnung ein. Nicht nur heute, sage ich, sondern das ganze Jahr über, an jedem einzelnen Tag gäbe es genügend Gründe, um zu verzweifeln. Jeden Tag würden im Mittelmeer Menschen ertrinken bei dem Versuch, zu uns nach Europa zu gelangen. Dürften wir dann entsprechend nie mehr feiern und es uns gut gehen lassen? Diese vielen Menschen, die da auf überladenen und hochseeuntauglichen Booten die Überfahrt zu uns nach Europa riskieren - suchen sie nicht vor allem auch jene materielle Sicherheit, die wir hier bis zu einem gewissen Grad haben, und die es uns nicht zuletzt auch gestattet, (wenn denn die notwendige Fron getan ist,) auch mal unbeschwert zu feiern?

Überzeugen kann ich meine Partnerin nicht.

„Arbeit und Fortschritt“ würden diese Leute wollen, fahre ich fort. „Ordem e Progreso, ganz wie es auf der brasilianischen Flagge steht. Lass uns das später ausdiskutieren. Das Eröffnungsspiel fängt an.“

Eröffnungsspiel-Märchen

Wie es abzusehen war, tun sich die Kroaten schwer im Eröffnungsspiel gegen Brasilien. Wegen eines groben Fouls in der Qualifikation ist ihr Spielmacher heute noch gesperrt. Sie haben das Publikum gegen sich. Und weil bei einem vorzeitigen Ausscheiden Brasiliens dort eine Revolution auszubrechen droht, welche das Milliardenabgezocke der FIFA behindern könnte, sind die Referees instruiert, alles zu tun, um einen brasilianischen Auftaktsieg sicher zu stellen.

Entsprechend verläuft das Spiel. Fred, vorgeblich brasilianischer Mittelstürmer, hatte es monatelang eingeübt. Als er im Strafraum der Kroaten einen geringfügigen Kontakt mit einem Verteidiger verspürte, spulte er das Programm routiniert ab, das ihm jetzt schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Er riss die Hände in die Höhe und ließ sich mit einem gellenden Schrei zu Boden fallen. Der anschließende Elfmeter von Jungstar Neymar führte zum Ausgleich gegen die Kroaten, die unerwarteterweise durch ein frühes Eigentor von Marcelo sogar in Führung gelegen waren.

Danach lief alles nach Plan. Geplant waren Neymar-Festspiele. Dieser Neymar ist ein Filou! Die ganze brasilianische Mannschaft hatte sich in Erklärungen und Pressekonferenzen auf die Seite der Demonstranten auf Brasiliens Straßen gestellt. Er aber sagt das nicht nur so.

Kurz vor Schluss luchst er einem Verteidiger den Ball ab. Zwei weitere lässt er mit Übersteigern alt aussehen und nimmt Kurs auf die Haupttribüne. Dort umkurvt er die Security und die Leibwächter und mit einem fulminanten Vollspannschuss trifft er den FIFA-Boss Sepp Blatter genau am Kinn. Der kippt, augenblicklich bewusstlos, von seiner Ehrenloge im zweiten Stock, und mit ihm der schwarze Aktenkoffer, den er unter dem Arm gehalten hat. Neben dem Funktionär schlägt der Koffer auf dem Asphalt auf und geht entzwei. Der böige Wind verteilt den Inhalt im Stadion. Tausende Geldscheine flattern im Wind. Gerecht werden sie unter den Anwesenden aufgeteilt, und zum großen Teil gleich weitergeleitet an das brasilianische Gesundheitswesen und in die brasilianische Bildung investiert.

Ein ums andere Mal brandet die Welle durchs Stadion. Der Jubel ist unbeschreiblich. Im Fernsehen sehen wir tausend glückliche Gesichter.

Nach diesem spektakulären Auftakt spricht nichts mehr dagegen: Dies wird ganz sicher die beste WM aller Zeiten.

Neymar, der Lauser

Neymar, der Lauser.
(Ausriss aus dem Red-Bulletin)

13. Juni 2014

Mexiko - Kamerun 1:0
Spanien - Niederlande 1:5
Chile - Australien 3:1



Aus Sicht des Hobbykickers

Vor vier Jahren, bei dem Spektakel in Südafrika, hatte ich noch den Vorsatz der Vollständigkeit. Alle Spiele wollte ich da mitzuverfolgen, und ich habe sie auch tatsächlich (fast) alle gesehen.

Heute denke ich mir, das muss nicht sein. Es gibt viele gute Gründe, ein Spiel auch mal auszulassen.

Ein Grund ist zum Beispiel die Übersättigung, die sich bereits in der Gruppenphase, wenn es wochenlang und Tag für Tag drei Spiele zu sehen gibt, unweigerlich einstellen wird. Es kann ja nicht der Sinn sein, dass man, wenn es später in die K.o.-Runden geht, wenn es erst wirklich interessant wird, wenn sich die Spreu schon vom Weizen getrennt haben wird, wenn es in jedem Spiel um Alles oder Nichts geht - dass man dann in dieser entscheidenden Phase des Turniers aufgrund der Übersättigung aus den Vorrundenspielen schon kein rundes rollendes Leder mehr sehen kann.

Ein zweiter Grund, um auch mal auszulassen, könnte sein: ungünstige Anstoßzeiten. Dass das Spiel also zeitlich mit den Pflichten in der Arbeit oder mit sonstigen wichtigen Belangen kollidiert. Die FIFA müht sich zwar redlich, dass solches möglichst nicht vorkommt. Extra für uns in Europa, (weil wir ja den größten Markt darstellen,) lässt sie die Spieler dort mitten in der größten Mittagshitze antreten, auf dass wir das Spektakel zeitverschoben hier zur Primetime, abends nach getaner Pflicht und bis in Nacht hinein mitverfolgen können.

Trotzdem ist mir gleich heute, gleich am zweiten Spieltag genau dieses passiert. Das Spiel Nummer 2: Mexiko gegen Kamerun konnte ich beim besten Willen nicht live mitverfolgen. Denn zu dieser Zeit, Freitags zwischen 18 und 20 Uhr, bin ich mit meinem eigenen Team immer selber am Kicken.

Wir lieferten heute, denke ich, ganz ansprechende Fußballkost. Noch in der Woche davor war es, wohl aufgrund der noch ungewohnten Sommerhitze, ein ziemlicher Grottenkick gewesen. Heute hingegen waren einige hübsch flüssige Kombinationen dabei, auch so manches technische Kabinettstückchen. Ich habe mal wieder ein Tor geschossen. Das Spiel war spannend bis zur Schlussminute, in der wir, obwohl in Unterzahl, (nämlich zu fünft gegen sechs,) mit etwas Glück noch zum 4 : 4 ausgleichen konnten.

Gehe ich fehl in der Annahme, dass die Tatsache, dass in Brasilien gerade das Turnier zwischen den Besten der Welt ausgetragen wird, auch auf unseren Hobbykick einen Einfluss gehabt hat? Es ist natürlich ein unwissenschaftliches Schließen von der eigenen Erfahrung auf die Allgemeinheit, wenn ich hier meiner festen Überzeugung Ausdruck gebe: Während und bis kurz nach diesen fußballerischen Großereignissen sind aufgrund einer unergründlichen Fernwirkung auch oft die Hobbykicker in aller Welt mehr inspiriert. Was auch in diese Richtung deuten könnte: Nachweislich steigt während der Großereignisse der Verkauf an Fußballschuhen immer steil an. Ich denke mir, es liegt an der zu diesen Zeiten auf den Bolzplätzen der Welt millionenfach gemachten Erfahrung: Da hätte ich jetzt gerade eine supergute Spielidee gehabt. Aber bei der Ausführung scheiterte ich leider an meinem ganz unzulänglichen, weil schon ziemlich veralteten Schuhwerk.

Aus Kabine und Dusche gibt es nichts Besonderes zu berichten. Danach sahen wir uns gemeinsam das zweite Spiel des Abends an.

Sympathien verteilen

Im Finale vor vier Jahren hatten die Holländer versucht, dem fein elaborierten und technisch hoch versierten Kurzpassspiel des amtierenden Welt- und Europameisters mit äußerster Brutalität beizukommen. Es hat ihren Ruf nachhaltig beschädigt. Unsere Sympathien zu Beginn des Spiels waren ganz einhellig auf Seiten der Spanier. (Obwohl wir sonst nicht abgeneigt sind, uns so zu positionieren, wie es speziell der Fußballsport seinem Publikum immer sehr nahelegt: tendentiell eher den Schwächeren die Daumen zu drücken.)

Wieder gingen die Holländer hart in die Zweikämpfe. Aber es war noch im Rahmen. Was dann aber folgte, war eine Demontage. Den Holländern gelang alles, den Spaniern nichts. Der mehrmalige Welttorhüter Iker Casillas leistete sich haarsträubende Schnitzer. Zwei Tore gingen direkt auf sein Konto. Arjen Robben war überall, spielte die spanische Abwehr schwindlig, traf zweimal selbst, einmal von rechts kommend und nach links innen ziehend, also ganz nach Art des Arjen Robben. Besonders sehenswert war auch der holländische Ausgleich nach der anfänglichen spanischen Führung. Nach einer Flanke fast von der Mittellinie aus traf Van Persie mit einer Flugkopfballrakete aus fast 16 Metern.

Wir alle lieben vor allem auch den guten und den schön gespielten Fußball, und dieser niederländischen Gala mussten wir doch Beifall zollen. Die Spanier konnten einem bloß noch leid tun.

Ist das jetzt das Ende einer Ära? Ist das jetzt das Ende des berühmten Tiqui-taca?



„Rakete“ ist Ihnen zu militärisch?
Van Persies Flugkopfball war aber eine.
(Aus dem Internet, geringfügig bearbeitet)

Der Fußball auf wissenschaftlicher Grundlage

Es bleibt noch abzuwarten, wie sich Spanien nach der Auftaktniederlage weiter schlagen wird. Aber wie es auch ausgeht - Tiqui-taca ist ganz sicher nicht am Ende.

Tiqui-taca ist Fußball auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage. Basierend auf viel Ballbesitz. Lieber noch einmal nach hinten spielen, solange sich vorne noch keine Lücke auftut. Solange man in Ballbesitz ist, kann man keine Gegentore bekommen, heißt es da immer. Aber entscheidender ist, dass der Gegner viel mehr laufen muss als das eigene Team, solange man in dieser Weise spielt. Und das zermürbt, körperlich und psychisch.

Geometrisch betrachtet, handelt es sich beim Tiqui-taca um virtuelle Dreiecke: Zwei Mitspieler sollten immer anspielbar sein. Die „Richtung“ der Dreiecke dreht sich dabei ständig um. Einem Pass nach vorne folgt ein „nach hinten gerichtetes“ Dreieck, um die Mitspieler im Spielaufbau „mitzunehmen“. Solange die Fläche der zweiten, der Rückpass-Dreiecke kleiner ist als die der ersten, der nach vorne gerichteten, bewegt man sich aufs gegnerische Tor zu. Falls sich dort keine Lücke zu einem „tödlichen Pass“ oder eigenen Torabschluss auftut, bricht man die Vorwärtsbewegung ab und schiebt wieder ein größeres „Rückpass-Dreieck“ ein, das gerne auch bis zur Mittellinie oder auch zurück zum eigenen Torwart reichen kann, und beginnt die Prozedur von vorne. Dies wäre also die geometrische Seite am Tiqui-taca.

Die Dreiecke können, je enger der Raum nach vorne wird, extrem klein werden. Damit wären wir bei der fußballtechnischen Seite. Tiqui-taca ist dann ein schnelles Kurzpassspiel auf engstem Raum, und also von der Ballbehandlung und Ballbehauptung her äußerst anspruchsvoll. Langfristig gepflegt, etwa in den Nachwuchsschulen Spaniens und Barcelonas, brachte es einen neuen Spielertypus hervor. (Oder die Kandidaten wurden genau in dieser Hinsicht ausgesiebt.) Und ökonomisch betrachtet, werden sich dann auf lange Sicht die Teuersten und Besten der Welt, was genau diese Fähigkeiten angeht, bei einigen wenigen finanzstarken Vereinen versammeln. Der FC Barcelona ist dafür das beste Beispiel.

Wenn man das Tiqui-taca in dieser Weise als Fußball auf wissenschaftlicher Grundlage versteht, dann wird es vielleicht irgendwann als Fußballphilosophie und -taktik an Grenzen stoßen. Es wird aber als Strategie für bestimmte Teams oder als Taktik für bestimmte Spielsituationen oder Phasen des Spiels immer wieder Neuauflagen erleben. Wenn es etwa darum geht, einen Vorsprung über die Zeit zu bringen, funktioniert es in einer weniger offensiven Variante ja auch mit technisch weniger versierten Spielern, vorausgesetzt, sie haben die Taktik eingeübt und verinnerlicht.

Die Spitzenteams haben seit Jahren jetzt versucht, dem alles dominierenden Tiqui-taca beizukommen. Die Holländer im WM-Endspiel 2010 mit brutaler Härte. Sie waren gescheitert. Ein zweiter Versuch war, im Training noch mehr Kondition zu bolzen. Laufen, laufen, notfalls 90 Minuten lang dem Ball hinterher laufen, und den Kopf ganz auszuschalten dabei und sich nichts zu denken. Ein dritter Versuch war, mit Hilfe des Abseits die Dreiecke vor dem eigenen Tor so infinitesimal klein werden zu lassen, dass es selbst für die technisch besten Spieler zu eng wird. Ein vierter Versuch, oft mit dem letzteren verbunden und zuletzt auch mit guten Erfolgen, war die gute alte Kontertaktik. Garreth Bayle ist ein Spezialist dafür. Man nehme einen stabil gebauten Stürmer, dessen Sprintzeiten ihn befähigen würden, auch bei sämtlichen Leichtathletikmeisterschaften ein gutes Bild abzugeben, und sobald man gegen die Tiqui-taca-Virtuosen auch einmal in Ballbesitz kommt, richtet man sich blitzartig mit dem ganzen Team und weiten Bällen auf die mit dem Sprint- und Stürmerstar eingeübten Laufwege aus.

Alle Welt spielt heute phasenweise Tiqui-taca, und phasenweise werden in jedem Team Gegenmittel gegen das Tiqui-taca trainiert. Als Taktik auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage ist es aus dem Fußball nicht mehr wegzudenken.

Und was hat das mit Philosophie zu tun?

Dem dritten Spiel des Abends (Chile gegen Australien 3:1) sahen wir nur noch mit einem Auge zu. Denn ausgehend von der Frage, ob das System Tiqui-taca, verstanden als Fußball auf wissenschaftlicher Grundlage, nun ausgedient habe oder auch nicht, kamen wir bald noch zu einer Folgediskussion darüber, ob es sich hierbei nun um eine rein fußballerische Frage gehandelt hätte oder ob uns die Debatte auch noch mehr aussagen konnte über die Zustände in der heutigen Welt.

Mein grußspurig ausgemaltes geometrisches Verständnis des Spiels beim Tiqui-taca, wurde mir zunächst einmal entgegengehalten, sei natürlich keineswegs etwas Neues. Im Gegenteil gehöre es seit ungefähr 1900 zum kleinen Trainer-Einmaleins, dass allen Jungs (und jetzt auch Mädels) hoffentlich schon von der E-Jugend an beigebracht wird, in aufgeteilten Räumen zu denken, auf dass nicht alle kopflos sich dorthin begeben sollten, wo sich der Ball gerade befindet.

Mir wäre es nicht um die Methode gegangen, hielt ich dagegen, den Raum geometrisch aufzufassen, sondern um die konkrete Form der Aufteilung des Raums, mit der das Tiqui-taca so erfolgreich geworden ist. Und als wir uns diese konkrete Ausformung angesehen hätten, die in den letzten Jahren so dominant geworden ist, dass sich viele Zuschauer dabei jetzt schon langweilen trotz aller individueller und kollektiver Virtuositäten, die da oft zur Aufführung gebracht werden, da hätten sich uns ganz wie von selbst jene Verbindungen und Parallelitäten zu anderen Bereichen des Lebens aufgetan, die über die reine Fußballmaterie eindeutig hinausgewiesen hätten.

Einen Trend zu einigen wenigen reichen Vereinen hätten wir gesehen, und auch die diversen Versuche, dieses Oligopol zu brechen, entsprächen ebenso Mechanismen in der realen (Wirtschafts-)Welt: mit roher Gewalt, wie im Finale vor vier Jahren, oder durch Anpassung und partielle Adaption des Systems, praktikabel auch für Jedermann, indem den spanischen Exzellenzen quasi mit deren eigenen Mitteln die Räume immer enger und enger gemacht werden, oder auch, wenn sich Teams durch den Einsatz eines Spezialisten wie des Kontersprinters Bayle quasi noch ihre eigene Marktnische neben der fußballerischen Weltspitze erschließen.

Auch andere Bezüge hätten sich gezeigt bei unserer Diskussion des Tiqui-taca: zur (Betriebs-)Psychologie etwa, weil es so extrem frustrierend für die Gegner ist, dem Ball immer bloß hinterher zu laufen. Und wie dieses eben auch eine eigene Betriebsphilosophie hervorgebracht hat, gemäß derer dies trotzdem stur trainiert wird, wie etwa auch beim Militär, mit dem Ziel, sich bei dem stupiden Dauergerenne möglichst nichts zu denken.

Aber eine Philosophie, musste ich am späteren Abend dann doch einräumen, ist das alles noch nicht, trotz aller Bezüge zur Ökonomie und anderen außerfußballerischen Bereichen. Bestenfalls ist es Soziologie. Und als solche vielleicht auch ein Baustein zu einer Philosophie. Und noch später am Abend hatten wir uns dann auf die bescheidene Formel geeinigt: Vielleicht haben wir hier schon die ersten Bausteine zur Hand für eine Grundlegung zu einer Philosophie des Fußballs.

14. Juni 2014

Kolumbien - Griechenland 3:0
Elfenbeinküste - Japan 2:1
Uruguay - Costa Rica 1:3
England - Italien 1:2



Hardcore

Nicht weil ich ein Fan wäre - nein, fanatisch bin ich nicht -, sondern weil ich auch selbst Fußball spiele und weil mich das ganze soziologische und kulturelle Drum und Dran an dem Weltphänomen interessiert, sehe ich mir oft und gerne ein gutes Fußballspiel an. Gerne dürfen es auch zwei sein. Bei dreien an einem Tag fühle ich mich überfordert. Da weiß ich dann meist hinterher nicht mehr, was nun genau in welchem der Spiele geschah. Ich bringe die Szenen durcheinander, und selbst an die Endergebnisse kann ich mich dann oft nur mit Mühe erinnern, und wenn ein ganz uninteressantes Spiel dabei war, dann nicht mal dieses. Drei Spiele an einem Tag sind immer hart.

Heute waren derer vier angesetzt. Der Rückstand aus dem Eröffnungstag, als es nur ein einziges gab, sollte aufgeholt werden. Es wird der einzige Turniertag sein mit gleich vier aufeinander folgenden Spielen. Und das war nun schon wirklich Hardcore. Ich fühle mich ausgelaugt. Ich bin erschöpft. Wenn Sie mich fragen, was ich da heute gesehen habe, habe ich zwar die vage Erinnerung, dass alle vier Spiele ganz gut gewesen sein dürften, aber mehr hängengeblieben ist bei mir eigentlich nur von zweien.

Die Steinschleuder

Uruguay gegen Costa Rica war der Hit. Wie da Uruguay in die sogenannte „Todesgruppe“ gestartet ist, mit den anderen zwei Mitfavoriten und Ex-Weltmeistern England und Italien schon im Hinterkopf, und im Auftaktspiel gegen die krassen Außenseiter und designierten Punktelieferanten aus Costa Rica auch tatsächlich bald in Führung lag, dann mit Blick auf die anstehenden schweren Aufgaben das Tempo ein wenig herausnahm in der großen Hitze, mit der Folge, dass das kleine Costa Rica, unverdrossen weiter fightend, gleich nach der Halbzeitpause zum Ausgleich kam, dann zur 2:1-Führung, dann zum 3:1 - das war schon wirklich vom Feinsten!

Es ist ein ziemlich simples, ein beinahe archetypisches Bild, und darum leicht zu entschlüsseln. Und trotzdem (oder eben darum) ist es immer wieder reizvoll, wenn sich da ein Spiel vor uns entfaltet in immer neuen Facetten, psychologisch stimmig in allen Details, fast als gäbe es ein Drehbuch. Wie da die Arroganz des Mitfavoriten und sein Unterschätzen des Gegners - denn es gibt heute keine Kleinen mehr, jedenfalls nicht unter denen, die es bis hierher geschafft haben - umgehend bestraft wurden. Wie es den Urus dann nicht mehr gelang, nach dem Ausgleich irgendwo einen Knopf zu drücken und noch einen Zahn zuzulegen. Wie da das vielzitierte „Momentum“ schon auf Seite der „Ticos“ lag, die sich darum aber rein schon gar nicht scherten und einfach weiter unbefangen nach vorne spielten. Wie die Urus davon halb noch überrascht waren, bald auch halb verzweifelt. Wie sie den Schalter nicht und nicht fanden, der da jetzt hätte umgelegt werden müssen, und wie das einzige, was sie durch ihre verspäteten Bemühungen für die Statistiken dann noch hin bekamen, ebenso perfekt noch ins Bild passte: Vier Minuten vor Schluss kassierte Uruguays Verteidiger Pereira für sein dummes Frustfoul an Campbell eine Rote Karte.

Rasenschach

Das andere Spiel, von dem mir einiges in Erinnerung geblieben ist, war das zweite in der „Todesgruppe“, das von England gegen Italien. Der ORF-Kommentator fand die erste Halbzeit ausgesprochen fad. Ich neigte unbedingt dem ganz konträren Votum Prohaskas in dessen Halbzeitanalyse zu: Das war ein taktisch ganz feiner Fußball. Sämtliche italienischen Angriffe liefen über Andrea Pirlo, und was er anpackte, hatte - kann man das im Fußball so sagen? - Hand und Fuß. Die Engländer mussten zumeist reagieren, sahen sich immer neuen guten Ideen und Angriffsvarianten gegenüber, wurden meist in der eigenen Hälfte eingeschnürt. Sie haben gut verteidigt. Hätten sie nach Ansicht des Kommentators vielleicht irgendwie trotzdem einen Hurra-Fußball nach vorne spielen und den Italienern ins offene Messer laufen sollen? Ihre gelegentlichen Konter mit Rooney waren durchaus auch nicht ungefährlich. Gewiss war diese erste Halbzeit von der Taktik geprägt. Aber wenn es denn „Rasenschach“ war - so sagen ja oft Leute, die weder von Schach noch von Fußball viel Ahnung haben -, dann war es jedenfalls Rasenschach feinster Sorte.

Nach der italienischen Führung in der zweiten Halbzeit wurde es aber auch für die Feinde des Rasenschachs ein gutes, offenes Spiel. Den Engländern gelang der Ausgleich, und beide Seiten hatten noch weitere gute Chancen, bis kurz vor Schluss das italienische Enfant terrible, (von dem man aber hört, es sei jetzt doch schon braver geworden,) - bis kurz vor Schluss der einstmals nach dem Siegtor im Halbfinale 2008 gegen die Deutschen als muskelstrotzende Oben-ohne-Ikone berühmt gewordene Balotelli per Kopf noch zum 2:1-Sieg für die Italiener traf.

Dank der unerwarteten Aufsässigkeit der Costa-Riquenos geht es nun also in der zweiten Runde im Spiel zwischen den beiden als Mitfavoriten eingestuften Teams aus England und Uruguay schon um Alles oder Nichts.

15. Juni 2014

Schweiz - Ecuador 2:1
Frankreich - Honduras 3:0
Argentinien - Bosnien-Herzegowina 2:1



Ein sinnreiches Werbemittel

Kolumbien, Honduras, Ecuador - da kann man schon mal durcheinander kommen. Auch bei den Asiaten tu ich mich manchmal schwer: Jene kleinen quirligen Spieler gestern, am Boden flink, aber bei den hohen Bällen eher im Nachteil - waren das jetzt die Japaner oder waren das die Mannen aus Südkorea gewesen? Und auch die afrikanischen Teams habe ich schon verwechselt: Was war da gestern mit Ghana oder Cote d'Ivoire, wie schlug sich Kamerun und wie die Elfenbeinküste? Manchmal wünsche ich mir da schon ein übersichtlicheres Teilnehmerfeld mit acht oder höchstens 16 Nationen zurück, so wie in den guten alten Zeiten.

Aber zum Glück gibt es technische Hilfsmittel, die man zum Einsatz bringen kann, wenn man Gefahr läuft, in dem Teilnehmerfeld die Übersicht zu verlieren. Ich habe so ein praktisches Ding jetzt immer dabei. Es ist ein Terminkalender, aber es ist noch mehr als das. Aufgefaltet ist das Ding ziemlich lang und ziemlich schmal, aber zusammengelegt passt es in jede Geldbörse. Sinnreich ist es so gefalzt, dass man es täglich neu zusammenlegen kann in einer Weise, dass auf den außen liegenden Seiten, vorne und hinten, jeweils die beiden Gruppen mit allen Teilnehmern, Spielterminen und Anstoßzeiten zu liegen kommen, die am jeweiligen Tag im Einsatz sind. Neben den Paarungen wurde noch Platz gelassen, so dass man auch die Spielergebnisse noch dort eintragen kann. Da merkt man gleich, und muss es loben: Der Designer hatte da eine knifflige Aufgabe zu bewältigen, und er hat sie gut bewältigt.

Jeden Morgen lege ich das Ding nun also für den Tag passend zusammen. Ich habe schon Übung darin. Anfangs bin ich noch über die Werbung gestolpert, aufgedruckt auf eine Teilseite zwischen den Gruppen D und E, und auf der Rückseite nochmal, bevor es hinunter ins Viertelfinale geht. Anfangs war ich noch verärgert über diese Werbeeinschaltung, die mich nun allmorgendlich zum Kauf neuer Fenster animieren will. Aber wenn das Ding so sinnreich täglich neu zusammenzufalten sein sollte, wurde mir bald bewusst, dann mussten darauf - das ist praktische Mathematik! - genau diese zwei Seiten von allem WM-Relevantem freibleiben. Man hätte sie natürlich auch unbedruckt lassen können. Aber wie hätte das ausgesehen? Da muss sich der Designer wohl gedacht haben: Hier wäre noch Platz für Werbung. Da frage ich jetzt mal den Fensterhersteller, und vielleicht hat er ja Interesse und übernimmt er sogar noch die Druckkosten.

Mit dem Ding in der Tasche, täglich neu zusammengefaltet, habe ich jetzt also immer einen guten Überblick über die Gruppen, die an dem Tag im Einsatz sind. Aber fragen Sie mich bitte nicht, was in den anderen Gruppen los war oder demnächst nun ansteht. Denn dann muss ich das Ding aus dem Geldbeutel nehmen, es auffalten, und ich habe dann dieses ellenlange, schmale Hilfsmittel in der Hand, auf beiden Seiten bedruckt, und manche Gruppen auch (aus mathematischen Gründen) auf dem Kopf stehend, und muss Ihnen dann mit viel Mühe das betreffende Team heraussuchen aus einer der Gruppen, die heute gar nicht im Einsatz sind. Und dann muss ich das Ding danach wieder passend für die heutigen Belange zusammenfalten. Aber das kann ich ja jetzt schon ganz gut.

Nach dem Starsystem

Ebenfalls hilfreich: Wenn man beim Zielpunkt einkauft (oder war's bei Billa?), bekommt man Sammelkarten gratis mit dazu, nicht mit irgendwelchen Spielern drauf wie bei Panini, sondern immer mit Stars! Ich habe jetzt schon zwei „Brazilian Stars“!

Ebenfalls hilfreich, um in dem riesigen Teilnehmerfeld nicht den Überblick zu verlieren, ist natürlich das Starsystem im modernen Fußball. Wenn ich aus meinem komplizierten Taschenkalender zum Beispiel herauslese, dass es da gestern auch noch ein Spiel gegeben haben muss von der Elfenbeinküste gegen Japan (2:1), dann kann ich mir Details wieder in Erinnerung rufen, wenn ich mir vergegenwärtige, was die Stars getrieben haben. Didier Drogba ist der Star bei der Elfenbeinküste. Er saß eine Stunde lang auf der Bank, weil sich sein Trainer sehr konsequent darum bemüht, das Team zu verjüngen. Nachdem sich die Jungs aber vergeblich gemüht hatten, den 0:1-Rückstand gegen die Japaner zu egalisieren, wurde Drogba dann doch noch gebracht. Mit seinem Modellkörper und dem kräftig-kantigen Gesicht zog er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Sowohl des Publikums im Stadion, das ihn frenetisch begrüßte, als auch seiner japanischen Gegenspieler, als auch zum Beispiel meiner Partnerin. („Der ist ja fesch!“, hatte sie kommentiert. Man sieht, nebenbei bemerkt: Auch meine dem Event so kritisch gegenüber gestandene Partnerin kann sich ihm schon nicht mehr entziehen.) In der letzten halben Stunde wurde Drogbas Sturmpartnern von den japanischen Verteidigern entsprechend weniger Beachtung geschenkt und sie bekamen dadurch mehr Raum und konnten das Spiel noch zum 2:1-Sieg umdrehen.

Gehen wir auch die heutigen Spiele nach dem Starsystem durch. Bei Frankreich denkt man zuerst an Franck Ribéry. Ribéry ist aber verletzt und bei der WM gar nicht dabei. Karem Benzema, langjährige zweite Geige hinter ihm, hat beim 3:0 gegen Honduras als Spielmacher, zwei- bis dreifacher Torschütze und eindeutig „Man of the Match“ unüberhörbar seinen Anspruch auf die vakant gewordene Starposition im französischen Team angemeldet.



Dass Frankreichs Ribery verletzt und nicht dabei sein würde, konnten die Sammelkartenleute vorher natürlich nicht wissen. So habe ich jetzt einen Franck Ribery, eine Superstar-Karte. Im Original ist sie voll schön blau glänzend anzuschauen, aber er ist nun einmal verletzt, und deshalb absolut nutzlos. Ich hätte die Karte an einen Liebhaber gratis abzugeben.

Ja, und bei Argentinien denkt man natürlich an den Star schlechthin. Lionel Messi ist nicht nur Spielmacher und extrem torgefährlich, er ist dazu auch noch ein tragischer Charakter. Die Medien lieben das. Zuletzt hatte er keine berauschende Saison beim FC Barcelona. Er hat in diesem Jahr noch keine Titel geholt. Aus diesem Grund, oder weil er generell überspielt ist, oder wegen seiner im militärischen Drill der spanischen Nachwuchsschulen verloren gegangenen Jugend, jedenfalls aber aufgrund einer Krankheit, die seine Ärzte ratlos macht, hatte er sich immer wieder auf dem Spielfeld übergeben müssen. Heute hat er sich körperlich geschont. Er war heute „nicht mit Balleroberungsaufgaben betraut“, wie man das nennt, wenn ein Stürmer nur faul vorne herumsteht. So musste er heute auch nicht kotzen, oder die Kameras haben es jedenfalls nicht gezeigt. Und trotzdem hat er seinen Job dann wieder sehr überzeugend erledigt: Nachdem es gegen den WM-Neuling Bosnien-Herzegowina lange 1:1 gestanden hatte, marschierte er gegen Ende des Spiels ein einziges Mal in seiner unnachahmlichen Weise durch die gegnerische Abwehr und machte den Siegtreffer zum argentinischen 2:1.



Ich habe auch schon zwei
„Fans' Favourites“!

Und was hat das mit Philosophie zu tun?

Schau dir die Erde als Ganzes an, mit all ihrer Vielfalt. Mit was beschäftigen sich die Menschen? Was bekommen sie mit von der Welt? Was bewegt sie? Was ist ihnen wichtig?

Da gibt es riesengroße Unterschiede. Menschen, die Tag für Tag ums Überleben kämpfen. Menschen, die es für ein noch größeres Problem halten, für ihre angehäuften Reichtümer die besten Anlagemöglichkeiten zu finden. Hochindustrialisierte Regionen - Regionen, in denen sich die Subsistenzwirtschaft soeben modernisiert. Gesellschaften, die immer noch starke familiäre oder andere Gruppenbindungen aufweisen - Gesellschaften, in denen die Kinder großgezogen werden mit dem Ziel, sie auf den Egotrip zu schicken.

Und dann werden da alle vier Jahre all diese unterschiedlichen Weltregionen - so es denn schon Fernsehen gibt, aber das gibt es mittlerweile fast überall - mit identischen Bildern beliefert, zeitgleich, in Echtzeit, und mindestens eine Milliarde Menschen, konservativ geschätzt, befasst sich mit dieser WM-Bilderwelt; und hat sich damit auch - was selten genug vorkommt und auch keine kleine Errungenschaft darstellt - auf ein für alle gültiges Regelwerk geeinigt.

Ja, es ist nur ein Sport. Es ist nur ein Spiel. Aber als ein Phänomen, das Menschen weltweit bewegt über alle Differenzen hinweg, (und zwar ganz gleich, ob es sich um Fußballliebhaber handelt oder um Sportverächter,) ist eine WM es wert, sie sich als Philosoph, also mit Liebe zur Weisheit, genau anzuschauen.

Als Philosoph oder Philosophin wird man auch immer den Kontext sehen. Als Philosoph oder Philosophin wird man dabei auch die sonstige, die allgemeine Nachrichtenlage nicht aus dem Auge verlieren.

Und man könnte sich fragen: Sind diese heutigen Neuigkeiten aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung ebenso für die ganze Welt relevant wie das momentan laufende Großevent? Oder sind sie auch noch ungleich wichtiger? Oder sind sie andererseits vielleicht auch nur eine relativ willkürliche Auswahl, beinahe zufällig an mein europäisches Ohr gedrungen, weil eine Fernseh- oder Zeitungsredaktion es zur Quoten- oder Verkaufssteigerung gerade nützlich befand, sie zu bringen? Sehen wir uns die heutige Nachrichtenlage kurz an.

Am Eröffnungstag der WM, wird heute berichtet, hat sich in Nigeria ein Selbstmordattentäter inmitten einer Menge, die das Fußballspiel ansehen wollte, in die Luft gesprengt. Es gab zwanzig Tote und viele Verletzte. Die Fanatiker von „Boko Haram“ haben sich zu dem Gemetzel bekannt und mit weiteren Angriffen auf solche Versammlungen gedroht. „Boko Haram“ heißt übersetzt etwa: „Alles Westliche ist Sünde“, und entsprechend erklären sie jetzt auch das Fußballspielen und Fußballschauen für unislamisch.

Ist das zu fassen? Die Fanatiker müssen ja nicht! Sie müssen nicht Fußballspielen oder dabei zuschauen. Aber die ganze Welt, haben sie sich vorgenommen, soll nach ihrer Facon unglücklich werden.

Der militante Islamismus im Irak, ist den Nachrichten weiterhin zu entnehmen, hat in den letzten Tagen große militärische Erfolge erzielt. Die Fanatiker von Isis wollen einen sunnitisch-islamischen Staat im Irak und in Syrien. Sie haben schon zahlreiche Städte und Dörfer eingenommen, haben fast alle Grenzübergänge nach Syrien und Jordanien und beinahe das ganze sunnitisch geprägte Gebiet des Irak schon unter ihrer Kontrolle. Gefangene irakische Soldaten wurden in Massen hingerichtet, wie es heißt. Die Isis hat auch selbst Fotos davon gemacht und stellte sie stolz und um ihren Terror massenmedial zu verbreiten, ins Netz. (Ihren sonstigen Gegnern ergeht es wahrscheinlich auch nicht besser.) Von hunderten Toten ist die Rede. Die irakische Armee hat dem blutrünstigen Treiben offenbar kaum noch etwas entgegen zu setzen. Die Kurden im Nordirak haben das Machtvakuum genutzt und sich die umstrittenen ölreichen Gebiete um Kirkuk geschnappt. (Die sind wenigstens nicht ganz so durchgeknallt.) Unter den Schiiten im Süden und Osten des Landes werden Freiwillige zum Dschihad gegen Isis und zur Verteidigung der heiligen schiitischen Stätten mobilisiert. (Die schauen im Fernsehen aber auch nicht viel vertrauenerweckender aus als die sunnitischen Extremisten.) Der Irak ist in großer Gefahr, bald nach Teilsekten sortiert auseinander zu brechen.

Und weiter haben wir da noch die nicht endenwollende Tragödie im Mittelmeer. Weiterhin ertrinken täglich massenhaft Menschen bei dem Versuch, zu uns nach Europa zu kommen. Nur wenn es ganz besonders viele Todesopfer gibt, ist es überhaupt noch eine Meldung wert.

Von diesen drei Meldungen aus Nigeria, aus dem Irak und aus dem Mittelmeer würde ich annehmen, dass sie ähnlich Menschen in aller Welt interessieren und bewegen dürften zur Zeit, wie es bei den Neuigkeiten von der WM der Fall ist.



Die Karte aus dem heutigen Standard zeigt die Gegenden in Afrika und Asien, wo Fußball höchstens noch zur körperlichen Ertüchtigung der dort aktiven islamistischen Milizen betrieben werden darf, aber auf keinen Fall mehr zum Vergnügen. (Grün eingefärbte Flächen.)

16. Juni 2014

Deutschland - Portugal 4:0
Iran - Nigeria 0:0
Ghana - USA 1:2



Public Viewing in Wien

Gemütlich zuhause auf der Couch sitzen, allein, zu zweit, zu dritt oder zu viert, bei einem Bier und einer Tüte Chips, und die Spiele in Ruhe im Fernsehen verfolgen, war gestern. Jetzt ist Schluss mit lustig. Denn heute greifen die Germanen ins Turniergeschehen ein. Da heißt es, hinaus aus der Wohnung und hinein in die Stadt, und endlich auch selbst aktiv werden und Farbe bekennen.

Wir haben hier viele Deutsche in Wien. Man erkennt sie an den Farben der Kleidung und an der Schminke im Gesicht. Die meisten dieser Fans werden gar nicht wissen, wo das Schwarz-Rot-Gold historisch herkommt. Viele von ihnen werden denken, das wären einfach nur zufällig die Farben der deutschen Fahne geworden. Dass das vielleicht jemand aus einem Topf mit allen nur denkbaren Farben ausgelost hat, oder dass ein ganz fauler Mensch den arbeitsersparenden Vorschlag gemacht hat: „Nehmen wir doch einfach die belgischen Farben, aber in quer!“ Jedenfalls rennen jetzt alle zwei Jahre während der ballesterischen Großereignisse auch bei uns in der Stadt immer eine Menge von Leuten herum in den Farben der deutschnationalen Burschenschaften, die ja gewiss auch ihren Teil beigetragen haben zur deutschen Nationwerdung im 19. Jahrhundert, aber eben auch zu dem, was dann im 20. noch folgen sollte. Denn fast alle hatten sie zum Beispiel schon von Beginn an keine Juden bei sich aufgenommen.

Ich bin ich ja auch selbst bis zu einem gewissen Grad deutsch. Ich habe es mir nicht selbst ausgesucht und auch sonst nichts dazu getan, aber meine Personaldokumente weisen darauf hin. Über einen deutschen Reisepass zu verfügen, hat sich durchaus schon, beim Reisen etwa, als nützlich erwiesen. Aber muss ich mir da gleich, wie als zur Gegenleistung, sobald das Fußballnationalteam antritt, die Farben dieser protofaschistischen Organisationen ins Gesicht malen oder mein Haus oder Auto damit schmücken? Das muss ich nicht. Ich brauch's auch nicht. Ich brauche auch keine sonstige, oberflächlich betrachtet vielleicht harmloser daherkommende nationale Identitätshilfe, um mir meiner sicher zu sein, wie zum Beispiel das Rot-Weiß-Rot. Diese Farben bedeuten, soweit ich weiß: Berge - Töchter - Söhne. Was könnte harmloser erscheinen? Aber auch hier: Ich brauche solche nationalen Identitätshilfen nicht. Doch genug jetzt davon.

Viele schwarzrotgolden Euphorisierte sind also in der Stadt. Und da heißt es nun, da wir hier ja noch niemals nicht deutschnational gesinnt, sondern immer schon ein Musterbeispiel an blockfreier Neutralität waren, die entsprechenden Gegenakzente setzen. Aber wo macht man das am besten in Wien?

Ein großes Public Viewing gibt es „für Studenten“, erfahre ich auf der Website einer Zeitung. Student bin ich nicht. Ein weiteres gibt es „für echte Fußballfans“. Fanatisch bin ich ebenfalls nicht. Bei einem dritten würden Cocktails serviert aus aller Welt. Dort ist es mir zu teuer, vermutlich. Ein viertes, „für Deutsche und ihre Freunde“, scheidet aus den genannten farbpsychologischen Gründen aus. Wir entscheiden uns dann für das fünfte. Dieses ist angerichtet, heißt es, „für Entspannte“. Ob's, im Nachhinein betrachtet, die falsche Entscheidung war?

Es geht ja bei diesen Public Viewings in erster Linie um die Unterstützung einer der beiden Mannschaften. Sobald eine Masse von Menschen die Daumen drückt, die jeweils eigenen, und dazu je nach Spielverlauf gemeinsam jubelt, jammert oder schimpft, hat dies aufgrund einer unergründlichen Fernwirkung immer auch einen direkten Einfluss auf das Fußballspiel. Man weiß noch nicht, wie das passiert. Es könnte sich um einen Rückkoppelungseffekt über den Fernsehsatelliten zurück ins Stadion oder um einen sonstigen geisterhaften Tunneleffekt handeln. Die Berichte der Spieler sind jedenfalls Legion, in denen sie versichern, sie hätten die ungeheure Unterstützung der Anhängerschaft ganz unzweifelhaft wahrgenommen, und es hätte ihr Spiel beflügelt.

Wahrscheinlich war unsere antideutsche Neutralität bei jenem Public Viewing in Wien tatsächlich zu „entspannt“ angelegt. Wahrscheinlich konnten wir dadurch nicht genügend seltsame Energien freisetzen. Denn die Deitschen gewannen ihr Spiel gegen Portugal mit 4:0.



Hat jemand den Messi? Ich biete zweimal Philipp Lahm für einmal Lionel Messi.

Iran - Nigeria 0:0

Die Atmosphäre bei dem Public Viewing war tatsächlich, wie es angekündigt war, recht „entspannt“gewesen, aber aufgrund dieser Ankündigung - denn die Wiener lieben das - war es auch ziemlich überlaufen. Wir hatten kaum noch einen Sitzplatz ergattern können. Für das nächste Spiel des Abends suchten wir uns ein ruhigeres Plätzchen, und landeten in einem kleinen Beisel, aber mit großem Großbildschirm, hatten dort unseren eigenen Tisch, und zum Getränkenachschub musste man dort auch nicht Schlange stehen.

Es war das unattraktivste Fußballspiel des bisherigen Turniers. Die Außenseiter aus Iran stellten sich hinten rein, die amtierenden Afrikameister aus Nigeria bekamen nach vorne kaum etwas zustande.

Doch wer wollte es ihnen verdenken? Ein Fußballspieler kann nicht immer nur für sein eigenes Prestige, und um den eigenen Marktwert zu steigern, Glanzlichter setzen. Fußball ist immer auch ein Mannschaftssport, und drum ist auch der Team-Spirit wichtig. Im Falle Nigerias dürfte er etwa in die Richtung ausgelegt gewesen sein: Wir wollen unseren Leuten in der vom Bürgerkrieg geplagten Heimat frontenübergreifend ein wenig Spaß und Abwechslung bereiten. Und dann erfährst du, dass es dort Mordanschläge gab genau auf die Leute, die mit dir mitfiebern wollten. Dass dann die Spielkombinationen nicht mehr so flüssig geraten, ist wirklich kein Wunder.

17. Juni 2014

Belgien - Algerien 2:1
Brasilien - Mexiko 0:0
Russland - Südkorea 1:1



Für die Geschichtsbücher

Mit den Auftritten von Belgien gegen Algerien (2:1) und Russland gegen Südkorea (1:1) ist der erste Vorrunden-Spieltag komplett. Was werden noch unsere Enkel spontan und ohne nachschlagen zu müssen erzählen können, falls sie von ihren Enkeln auf diese ersten sechzehn Begegnungen des Turniers angesprochen werden?

Dass es weniger defensives Taktieren gab als befürchtet. Dass die offensiv angelegten Spielkonzepte oft von Erfolg gekrönt waren, sprich: dass viele Tore fielen. Dass sich die Favoriten recht oft schwer taten. Dass es einige überraschende Resultate gab. Und - gleich zu Beginn, aber seither kaum mehr - ein paar gravierende Fehlentscheidungen. Dass schon beachtliche sechs Partien spektakulär „umgedreht“ wurden.

All dies könnten die Enkel unserer Enkel dann ebenfalls in ihren Allgemeinbildungsschatz integrieren, und ihrerseits wieder ihren Enkeln und Urenkeln, falls die das interessieren sollte, davon erzählen.

Eine perfekte Welt

Wie sich die Kritik auch an den krassesten Begleitumständen regelmäßig in Luft auflöst, sobald solch ein Turnier erst einmal richtig angelaufen ist, so bringt das Christian Hackl, seines Zeichens Sportreporter des Standard, in seiner bekannt launigen Sprache (obwohl sie auch manchmal etwas holpert) auf den Punkt: -

„Eine perfekte Welt - Joseph S. Blatter hat seine beste WM, die kollektive Falle ist zugeschnappt. Schlechte Fußballspiele scheinen in Brasilien abgeschafft zu sein, diesbezüglich muss man sich bis zum 19. Juli gedulden, an diesem Tag beginnt die österreichische Bundesliga. Was natürlich als ganz gemeine Überspitzung interpretiert werden soll. Wiener Neustadt und Grödig sind eh super.

Es spielt keine Rolle mehr, dass Demonstranten in Sao Paolo von Polizisten niedergeprügelt werden, dass im Jahr 2013 in Salvador offiziell 2234 Morde registriert wurden, die Dunkelziffer weit höher liegt. Korruption, Elend, Straßenkinder, Drogenkartelle, kein Geld für Schulen und Krankenhäuser hat es auch vor der WM gegeben.

Blatter twittert, dass die Fifa hier sei, um Frieden und den Kampf gegen jede Form von Diskriminierung zu promoten. Dass zwei der drei Friedenstauben bei der Eröffnungsfeier am Stadiondach zerschellt sind, und der dritte weiße Vogel seither vermisst wird, ist ein anderes Thema. 1984 bei den Sommerspielen in Los Angeles sind andere Friedenstauben übrigens direkt ins olympische Feuer geflogen. Neymar, Robben und Pirlo sind von jeglicher Schuld freizusprechen. Schlechter kicken ist die dümmste Alternative.

Mesut Özil hat auf Facebook die 20-Millionen-Grenze überschritten, fehlen 65 Millionen auf Cristiano Ronaldo, das schafft er nie. Mario Balotelli hat auf seiner Brust tätowiert: `Ich bin die Strafe Gottes. Wenn du nicht so große Sünden begangen hättest, hätte Gott dir nicht so eine Bestrafung wie mich geschickt.´ Der Spruch stammt von Dschingis Khan, nicht von Blatter. Wird jetzt auch noch Franz Beckenbauer begnadigt, [zur Zeit wegen seiner Auskunftsunfreudigkeit über die Umstände bei der WM-Vergabe an Katar für drei Monate für alle Fußballaktivitäten, auch Besuche im Stadion, gesperrt - Anm. VH], dann ist die Welt perfekt.“