Philosophie, das bedeutet:

Liebe zur Weisheit


Schau dir die Erde als Ganzes an, mit all ihrer Vielfalt. Mit was beschäftigen sich die Menschen? Was bekommen sie mit von der Welt? Was bewegt sie? Was ist ihnen wichtig?

Da gibt es riesengroße Unterschiede. Menschen, die Tag für Tag ums Überleben kämpfen. Menschen, die es für ein noch größeres Problem halten, für ihre angehäuften Reichtümer die besten Anlagemöglichkeiten zu finden. Hochindustrialisierte Regionen - Regionen, in denen sich die Subsistenzwirtschaft soeben modernisiert. Gesellschaften, die immer noch starke familiäre oder andere Gruppenbindungen aufweisen - Gesellschaften, in denen die Kinder großgezogen werden mit dem Ziel, sie auf den Egotrip zu schicken.

Und dann werden da alle vier Jahre all diese unterschiedlichen Weltregionen - so es denn schon Fernsehen gibt, aber das gibt es mittlerweile fast überall - mit identischen Bildern beliefert, zeitgleich, in Echtzeit, und mindestens eine Milliarde Menschen, konservativ geschätzt, befasst sich mit dieser WM-Bilderwelt; und hat sich damit auch - was selten genug vorkommt und auch keine kleine Errungenschaft darstellt - auf ein für alle gültiges Regelwerk geeinigt.

Ja, es ist nur ein Sport. Es ist nur ein Spiel. Aber als ein Phänomen, das Menschen weltweit bewegt über alle Differenzen hinweg, (und zwar ganz gleich, ob es sich um Fußballliebhaber handelt oder um Sportverächter,) ist eine WM es wert, sie sich als Philosoph, also mit Liebe zur Weisheit, genau anzuschauen.

Als Philosoph oder Philosophin wird man auch immer den Kontext sehen. Als Philosoph oder Philosophin wird man dabei auch die sonstige, die allgemeine Nachrichtenlage nicht aus dem Auge verlieren.

Und man könnte sich fragen: Sind diese heutigen Neuigkeiten aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung ebenso für die ganze Welt relevant wie das momentan laufende Großevent? Oder sind sie auch noch ungleich wichtiger? Oder sind sie andererseits vielleicht auch nur eine relativ willkürliche Auswahl, beinahe zufällig an mein europäisches Ohr gedrungen, weil eine Fernseh- oder Zeitungsredaktion es zur Quoten- oder Verkaufssteigerung gerade nützlich befand, sie zu bringen? Sehen wir uns die heutige Nachrichtenlage kurz an.

Am Eröffnungstag der WM, wird heute berichtet, hat sich in Nigeria ein Selbstmordattentäter inmitten einer Menge, die das Fußballspiel ansehen wollte, in die Luft gesprengt. Es gab zwanzig Tote und viele Verletzte. Die Fanatiker von „Boko Haram“ haben sich zu dem Gemetzel bekannt und mit weiteren Angriffen auf solche Versammlungen gedroht. „Boko Haram“ heißt übersetzt etwa: „Alles Westliche ist Sünde“, und entsprechend erklären sie jetzt auch das Fußballspielen und Fußballschauen für unislamisch.

Ist das zu fassen? Die Fanatiker müssen ja nicht! Sie müssen nicht Fußballspielen oder dabei zuschauen. Aber die ganze Welt, haben sie sich vorgenommen, soll nach ihrer Facon unglücklich werden.

Der militante Islamismus im Irak, ist den Nachrichten weiterhin zu entnehmen, hat in den letzten Tagen große militärische Erfolge erzielt. Die Fanatiker von Isis wollen einen sunnitisch-islamischen Staat im Irak und in Syrien. Sie haben schon zahlreiche Städte und Dörfer eingenommen, haben fast alle Grenzübergänge nach Syrien und Jordanien und beinahe das ganze sunnitisch geprägte Gebiet des Irak schon unter ihrer Kontrolle. Gefangene irakische Soldaten wurden in Massen hingerichtet, wie es heißt. Die Isis hat auch selbst Fotos davon gemacht und stellte sie stolz und um ihren Terror massenmedial zu verbreiten, ins Netz. (Ihren sonstigen Gegnern ergeht es wahrscheinlich auch nicht besser.) Von hunderten Toten ist die Rede. Die irakische Armee hat dem blutrünstigen Treiben offenbar kaum noch etwas entgegen zu setzen. Die Kurden im Nordirak haben das Machtvakuum genutzt und sich die umstrittenen ölreichen Gebiete um Kirkuk geschnappt. (Die sind wenigstens nicht ganz so durchgeknallt.) Unter den Schiiten im Süden und Osten des Landes werden Freiwillige zum Dschihad gegen Isis und zur Verteidigung der heiligen schiitischen Stätten mobilisiert. (Die schauen im Fernsehen aber auch nicht viel vertrauenerweckender aus als die sunnitischen Extremisten.) Der Irak ist in großer Gefahr, bald nach Teilsekten sortiert auseinander zu brechen.

Und weiter haben wir da noch die nicht endenwollende Tragödie im Mittelmeer. Weiterhin ertrinken täglich massenhaft Menschen bei dem Versuch, zu uns nach Europa zu kommen. Nur wenn es ganz besonders viele Todesopfer gibt, ist es überhaupt noch eine Meldung wert.

Von diesen drei Meldungen aus Nigeria, aus dem Irak und aus dem Mittelmeer würde ich annehmen, dass sie ähnlich Menschen in aller Welt interessieren und bewegen dürften zur Zeit, wie es bei den Neuigkeiten von der WM der Fall ist.


Die Karte aus dem heutigen Standard zeigt die Gegenden in Afrika und Asien, wo Fußball höchstens noch zur körperlichen Ertüchtigung der dort aktiven islamistischen Milizen betrieben werden darf, aber auf keinen Fall mehr zum Vergnügen. (Grün eingefärbte Flächen.)


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