Der Fußball auf wissenschaftlicher Grundlage


Es bleibt noch abzuwarten, wie sich Spanien nach der Auftaktniederlage weiter schlagen wird. Aber wie es auch ausgeht - Tiqui-taca ist ganz sicher nicht am Ende.

Tiqui-taca ist Fußball auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage. Basierend auf viel Ballbesitz. Lieber noch einmal nach hinten spielen, solange sich vorne noch keine Lücke auftut. Solange man in Ballbesitz ist, kann man keine Gegentore bekommen, heißt es da immer. Aber entscheidender ist, dass der Gegner viel mehr laufen muss als das eigene Team, solange man in dieser Weise spielt. Und das zermürbt, körperlich und psychisch.

Geometrisch betrachtet, handelt es sich beim Tiqui-taca um virtuelle Dreiecke: Zwei Mitspieler sollten immer anspielbar sein. Die „Richtung“ der Dreiecke dreht sich dabei ständig um. Einem Pass nach vorne folgt ein „nach hinten gerichtetes“ Dreieck, um die Mitspieler im Spielaufbau „mitzunehmen“. Solange die Fläche der zweiten, der Rückpass-Dreiecke kleiner ist als die der ersten, der nach vorne gerichteten, bewegt man sich aufs gegnerische Tor zu. Falls sich dort keine Lücke zu einem „tödlichen Pass“ oder eigenen Torabschluss auftut, bricht man die Vorwärtsbewegung ab und schiebt wieder ein größeres „Rückpass-Dreieck“ ein, das gerne auch bis zur Mittellinie oder auch zurück zum eigenen Torwart reichen kann, und beginnt die Prozedur von vorne. Dies wäre also die geometrische Seite am Tiqui-taca.

Die Dreiecke können, je enger der Raum nach vorne wird, extrem klein werden. Damit wären wir bei der fußballtechnischen Seite. Tiqui-taca ist dann ein schnelles Kurzpassspiel auf engstem Raum, und also von der Ballbehandlung und Ballbehauptung her äußerst anspruchsvoll. Langfristig gepflegt, etwa in den Nachwuchsschulen Spaniens und Barcelonas, brachte es einen neuen Spielertypus hervor. (Oder die Kandidaten wurden genau in dieser Hinsicht ausgesiebt.) Und ökonomisch betrachtet, werden sich dann auf lange Sicht die Teuersten und Besten der Welt, was genau diese Fähigkeiten angeht, bei einigen wenigen finanzstarken Vereinen versammeln. Der FC Barcelona ist dafür das beste Beispiel.

Wenn man das Tiqui-taca in dieser Weise als Fußball auf wissenschaftlicher Grundlage versteht, dann wird es vielleicht irgendwann als Fußballphilosophie und -taktik an Grenzen stoßen. Es wird aber als Strategie für bestimmte Teams oder als Taktik für bestimmte Spielsituationen oder Phasen des Spiels immer wieder Neuauflagen erleben. Wenn es etwa darum geht, einen Vorsprung über die Zeit zu bringen, funktioniert es in einer weniger offensiven Variante ja auch mit technisch weniger versierten Spielern, vorausgesetzt, sie haben die Taktik eingeübt und verinnerlicht.

Die Spitzenteams haben seit Jahren jetzt versucht, dem alles dominierenden Tiqui-taca beizukommen. Die Holländer im WM-Endspiel 2010 mit brutaler Härte. Sie waren gescheitert. Ein zweiter Versuch war, im Training noch mehr Kondition zu bolzen. Laufen, laufen, notfalls 90 Minuten lang dem Ball hinterher laufen, und den Kopf ganz auszuschalten dabei und sich nichts zu denken. Ein dritter Versuch war, mit Hilfe des Abseits die Dreiecke vor dem eigenen Tor so infinitesimal klein werden zu lassen, dass es selbst für die technisch besten Spieler zu eng wird. Ein vierter Versuch, oft mit dem letzteren verbunden und zuletzt auch mit guten Erfolgen, war die gute alte Kontertaktik. Garreth Bayle ist ein Spezialist dafür. Man nehme einen stabil gebauten Stürmer, dessen Sprintzeiten ihn befähigen würden, auch bei sämtlichen Leichtathletikmeisterschaften ein gutes Bild abzugeben, und sobald man gegen die Tiqui-taca-Virtuosen auch einmal in Ballbesitz kommt, richtet man sich blitzartig mit dem ganzen Team und weiten Bällen auf die mit dem Sprint- und Stürmerstar eingeübten Laufwege aus.

Alle Welt spielt heute phasenweise Tiqui-taca, und phasenweise werden in jedem Team Gegenmittel gegen das Tiqui-taca trainiert. Als Taktik auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage ist es aus dem Fußball nicht mehr wegzudenken.


Zurück zum WM-Tagebuch 2018?