Pasarella

Kaum wieder draußen aus der Europäischen Union – denn ich war der Einladung von Herrn K., meines großherzigen Gönners gefolgt, ihn in der rumänischen Provinz zu besuchen –, wurde ich auch schon bald, ganz wie es das Klischee verlangt, mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert mit der rumänischen Infrastruktur. 

Das Pflaster auf der Europastraße ist schlechter als das von Europastraßen in Rußland, in der Ukraine, im Baltikum. Schlaglöcher wie beschrieben. 20 Zentimeter tiefe eingebrochene Stellen am Straßenrand. An anderen Stellen hat sich das Pflaster aufgeworfen; der Randstreifen erscheint als eine einzige unregelmäßige Wellenlinie. Leucht-Leitpfosten gibt es nicht. (1)

Endlich hatten wir die Stadt Medias erreicht. Aber aussteigen konnten wir nicht. Der Regenguß machte die Straße zum Fluß. Eine 20 cm hohe dünne Pampe bedeckte die Fahrbahn. Im Schrittempo fuhren wir durch die Stadt. Aus dem Auto bewunderten wir die Neubauten. Diese Art von Baustil kannten wir noch nicht. Vierstöckige, versetzt gebaute Reihenhäuser. Ein gelungener Entwurf! (2)

Medias liegt, wie der Name schon sagt, in der Mitte, nämlich des Karpatenbogens. Es ist ein Städtchen von vielleicht 50.000 bis 70.000 Einwohnern und Einwohnerinnen. Es gibt hier eine Salamifabrik und ansonsten viel privatwirtschaftlich organisierte Schnapsproduktion. Das Flüsschen Tarnava mit seinen umgebenden Auen teilt die Stadt in zwei annähernd gleich große Teile. 

Ich bin in einer Wohnung im neueren Gebiet, in Gura Câmpului untergebracht, dem Stadtzentrum gegenüber, über den Fluss. Aber über die Pasarella, eine 1977 in Betrieb genommene Fußgängerbrücke, ist es leicht in zehn Minuten zu erreichen. Bloß hat die Pasarella in ihrer Gehfläche momentan an mehreren Stellen größer und größer werdende Löcher, und das Stahlgitterskelett darunter macht – nunmehr den Unbilden der Witterung frei ausgesetzt – ebenfalls nicht mehr den solidesten Eindruck.

Die Behörden haben umgehend reagiert, und sie haben die Pasarella gesperrt. Ein Sperrbalken wurde also an beiden Aufgängen zur Brücke aufgestellt und ein Warnschild angebracht. Die Pasarella nicht mehr zu betreten, hätte für die Leute von Gura Câmpului nun, wenn sie in die Innenstadt wollten, einen Umweg flussaufwärts und über die Autobrücke von zwanzig bis dreißig Minuten bedeutet. Aber was so ein richtiger Gura-Câmpulaner ist, den scheren solche Verbote nicht. Die Gura-Câmpulanerin übrigens auch nicht. Und so wurden diese Absperrungen, bevor es auf die Pasarella geht, nun eben überstiegen. Ich habe ebenfalls ein paarmal die Pasarella genommen, um in die Innenstadt oder zu meinen Gastgebern zu gelangen. Wenn man bei ihrer Überquerung sicherheitshalber immer in Handkontakt mit dem Metallgeländer blieb, konnte eigentlich nicht viel passieren. Und nebenbei konnte man sich so noch täglich sein eigenes Bild vom Zustand der Pasarella machen, ohne dabei nur blind auf das Urteil der Behörden vertrauen zu müssen. Die Pasarella wurde nun also nach ihrer Sperrung vielleicht bedächtiger, aber jedenfalls kaum weniger frequentiert als zuvor. 

Allein es ist hier wie fast überall auf der Welt. So etwas lassen die Behörden nicht gern auf sich sitzen. Hier wie fast überall auf der Welt sind die Behörden nicht zuletzt auch immer um Aufrechterhaltung und Pflege ihrer Autorität bemüht. Und so wurden sie erneut aktiv und hatten einen funktionstüchtigen Bagger samt dem nötigen Treibstoff aufgetrieben, um an den beiden Aufgängen zur Pasarella zusätzlich zu Schranke und Verbotsschild nun auch noch einen hohen, den Zutritt verhindernden Erdwall aufzuschütten. 

Diese beiden Erdwälle hielten dann auch tatsächlich die Alten und Gebrechlichen, ganz kleine Kinder sowie Leute, die mit Kinderwagen oder ähnlichem unterwegs waren, davon ab, die Brücke weiter zu benutzen. Auch für die sonstige Bevölkerung wurde dies durch die Erdwälle deutlich erschwert. Auf welchem Wege sich die Pasarella aber dennoch am relativ einfachsten auch weiterhin betreten ließ, war freilich schon kurze Zeit später an den gut ausgebildeten Trampelpfaden abzulesen, die da über diese Hügelchen hinweg führten. Nochmals ein paar Tage später waren’s dann schon richtiggehende Schneisen. 

Diese die aufgeschütteten Hindernisse konterkarierenden Schneisen waren dann natürlich auch von den Behörden bald bemerkt worden, und so wurden diese erneut aktiv. Drei Arbeitern wurde der Auftrag erteilt, den illegalen Zutritt über die Hindernisse hinweg und zur Pasarella nun zusätzlich noch mit ineinander vernagelten dicken Ästen, abgesägten jungen Bäumen und darein verflochtenem Dornengestrüpp zu blockieren. Der Auftrag wurde dann auch schnell und mit großer Sorgfalt ausgeführt. 

Dies hatte aber naturgemäß auch zur Folge, dass jene drei anderen Gemeindearbeiter, die zur Renovierung der Pasarella abgestellt waren, schwer beladen mit all ihrem Werkzeug und Material, wie sie waren, ebenfalls kaum noch auf die Brücke und an die Stätte ihres Wirkens gelangen konnten. Weshalb der nämliche Bagger jetzt noch ein zweites Mal organisiert und herangebracht werden musste, um den stadtseitigen der beiden dornen- und gestrüppbewehrten Wälle nun doch wieder abzutragen. 

Und so hat dann aber letztlich doch noch die staatliche Effizienz über den Eigensinn der Leute von Gura Câmpului obsiegt. Denn an den folgenden Tagen bearbeiteten jene Brückenrenovateure sehr systematisch einen Teil der Brücke, indem sie erst mit Vorschlaghämmern ihren Zementboden auf ganzer Breite entfernten und danach noch mit einem Schweißbrenner das darunter freigelegte Skelett aus rostig-marodem Stahlgitter heraus schnitten. Auf diese Weise schufen sie bis jetzt ein etwa zwei mal drei Meter großes Loch, welches so nun in ganzer Breite ziemlich genau in der Mitte der Brücke klafft. Die Pasarella von Medias ist so nun tatsächlich bis auf weiteres unpassierbar. 

Ein zweites Klischee, das mit dem oben erwähnten eng zusammenhängt, wäre somit nun aber auch widerlegt: Wenn es hier immer wieder einmal große Probleme gibt mit Funktionsuntüchtigkeiten in der Infrastruktur, dann liegt das beileibe nicht immer nur am Fehlen von Geld. 


(1) Eines von weit über 100 bruchlos in den Text eingewebten Fremdzitaten. Im Anhang des Buches werden sie nachgewiesen. Hier: aus Annemarie Lohfeld: „Im Auto zum Donaudelta – Zwei Frauen bereisen Rumänien“, Frieling Verlag Berlin, 1997, S. 15

(2) aus Eva Corodonnoff: „Meine Reiseerinnerungen an Rumänien“, Eigenverlag, 1998, S. 17 

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