Wenn es Nacht wird, wenn wir allein sind, wenn das Lektoratspersonal gegangen ist und auch der Putztrupp fertig geputzt und das Gebäude verlassen hat, hebt immer ein lebhaftes Wispern an in unseren Stapeln. Zu Anfang hatte ich es als gehässiges Tuscheln fehlinterpretiert. Anfangs hatte ich gedacht, es würde so leise geflüstert, weil es darum gehe, Allianzen und Intrigen zu schmieden. Tatsächlich reden wir aber nur deshalb so leise miteinander, weil wir nicht von vielleicht doch noch anwesenden Menschen gehört werden wollen, die dann den Verdacht gegen uns bekommen müssten, wir würden die Allmacht ihrer Entscheidungen über unser Schicksal diskutieren und in Frage stellen wollen. Dies aber ist ganz und gar nicht der Fall! Wir sind uns im Gegenteil fast alle darüber einig, dass das Entscheidungsprocedere über unser Schicksal im Großen und Ganzen vernünftig, effizient und vor allem auch fair angelegt ist. Es ist durchaus beeindruckend, mit anzuschauen, wie das Lektoratspersonal sehr gleichmäßig schnell die Stapel abarbeitet, die da vor einem liegen. Wie es das schafft, über einen Großteil der Kollegen zu entscheiden, indem es nur kurz einen Blick hinein wirft und danach sofort die Anweisung geben kann: „Retournieren!“ – das ist wirklich beeindruckend!

Aufgrund des gleichmäßigen Arbeitstempos im Lektorat hatten wir uns leicht ausrechnen können, dass jeder einzelne von uns nach drei bis dreieinhalb Monaten dran kommen würde. Bei dem nächtlichen Getuschel ging es uns natürlich vor allem darum, uns die Wartezeit möglichst angenehm zu gestalten. Sobald wir also unter uns waren, tauschten wir uns aus und lernten wir uns kennen. 

Mit zwei Manuskriptkollegen hatte ich gleich überraschende Übereinstimmungen festgestellt. Aber wie es bei uns Manuskripten typisch ist, waren wir dann schnell dazu übergegangen, statt der Gemeinsamkeiten lieber die Unterschiede unter uns herauszufinden und zu betonen. Man kennt das ja: Jedes Manuskript will immer etwas ganz besonderes sein. Deshalb werden auch engere Allianzen unter uns kaum einmal zustande kommen. Die Lektoren dürfen ganz beruhigt sein. Wir werden uns wohl kaum gegen ihr gottgleiches Urteil verbünden. Dazu sind wir in der Regel viel zu individualistisch. 

Dass unser Individualismus in der speziellen Lage, in der wir uns befinden, nicht frei von Rivalität sein kann, dürfte leicht einleuchten. Jedes bei einem Manuskriptkollegen gefundene Haar in der Suppe erweckt in unserer Situation fast automatisch die Hoffnung, die eigene Chance, angenommen zu werden, müsse dadurch gestiegen sein. Aber wir sind ja auch nicht dumm. (Oder nur eine Minderheit von uns.) Da wir alle wissen, wie klein der Effekt allenfalls sein könnte, wenn wir nun anfangen würden, ständig untereinander Bashing zu betreiben, allein schon im Verhältnis zu den reinen Zufallseffekten, die in weit größerem Ausmaß über unser Schicksal bestimmen werden, lassen wir das immer wieder einmal auftauchende Konkurrenzdenken unter uns jedenfalls nicht die Oberhand gewinnen. Überwiegend ist der Umgang unter uns doch ein sehr kollegialer. 

Viele meiner Schicksalsgenossen hier sind ausgesprochen nett. In den allermeisten von uns steckt ungemein viel Herzblut. Fast alle sind wir solide gearbeitet. Es ist oft interessant, wenn wir uns unsere Entstehungsgeschichten erzählen. Es ist oft witzig, wenn wir uns auseinander vorlesen. Es gibt da unter uns aufregende Ideen, konsequent stilsichere Durchführungen, überraschende Wendungen und formale Lösungen. 

Es ist kurzweilig, amüsant und lehrreich, dieses unser nächtliches Tuscheln. Die wenigsten von uns würden sich gegenseitig den Erfolg neiden. Vielen, den meisten der Kollegen würde ich ihn von Herzen gönnen. Und dass eines der wenigen nervtötenden Exemplare, die es unter uns auch gibt – wie der junge Geck zum Beispiel, drei Plätze unter mir, das schmale Heft, das sich als neuester König der Lyriker aufführt, aber wenn ich ihm sage, dass seine Metrik noch gewaltig holpert, nicht einmal weiß, von was ich da rede – dass also auch solch ein nervtötender Jungspund gecastet werden könnte, da ist zum Glück die von uns allgemein anerkannte, die unübersehbare, die tagsüber hier waltende Kompetenz des Lektoratspersonals vor. 

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