13. Dezember 2011

Der Nachhaltigkeitssammler

Seit bald 25 Jahren gehe ich einem ausgefallenen, anspruchsvollen und manchmal sehr anstrengendem Hobby nach: Ich sammle Nachhaltigkeit, in allen Ausprägungen, Farben und Formen, alle Bücher und Filme und Zeitungsartikel und Werbeanzeigen und alle öffentlichen Äußerungen, die man sich überhaupt vorstellen kann, wenn nur Nachhaltigkeit darin vorkommt. Die Anlage und der Ausbau meiner Sammlung geschieht natürlich selbst ebenfalls nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit. (Sonst wäre da ja ein Widerspruch.) Das heißt zum Beispiel, dass ich aus der öffentlichen Sphäre niemals mehr von diesen Statements entnehmen und sie in meine Nachhaltigkeitssammlung aufnehmen werde, als sie im selben Zeitraum auch wieder nachzuproduzieren in der Lage ist. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Alles begann vor beinahe genau 25 Jahren mit dem sogenannten „Brundtland-Report“, der die Kriterien definiert hatte für eine „nachhaltige Entwicklung“ und damit den Nachhaltigkeitsdiskurs erst so richtig anstieß und auch nachhaltig prägte. Seither wächst meine Sammlung zum Thema Nachhaltigkeit beständig und sie wächst und wächst, und ich bin auch sehr zuversichtlich, dass sie auch in Zukunft weiterhin wachsen wird. Eine kleine Gefahr fürs nachhaltige Wachstum meiner Sammlung könnte höchstens noch darin bestehen, dass die Nachhaltigkeit als Begriff eines Tages vielleicht auch wieder aus der Mode kommt, was Gott aber bitte, auch im Sinne unserer Umwelt, nachhaltig verhüten möge.

Als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler versuche ich natürlich auch selbst meinen Beitrag dazu zu leisten, dass es nicht soweit kommt. Eine große Gefahr, dass das Wort irgendwann niemand mehr hören kann, liegt ja in Zeiten wie diesen, in denen kaum noch eine kommerzielle Werbeanzeige auf seine Verwendung verzichtet, in der Beliebigkeit, mit der es verwendet wird. Und so sammle ich als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler, dem auch an einem nachhaltigen Wachstum seiner Sammlung gelegen ist, natürlich nicht alle Zeitungsausschnitte, in denen Nachhaltigkeit bloß als Begriff irgendwie vorkommt, nein, sondern nur diejenigen Statements zur Nachhaltigkeit sammle ich, die dem Gedanken der Nachhaltigkeit auch tatsächlich, und zwar nachhaltig, weiterhelfen.

Darf ich Ihnen vielleicht ein paar Glanzstücke aus meiner Sammlung zeigen? Hier zum Beispiel haben wir die berühmte doppelseitige Anzeige der Rewe-Group mit der Überschrift „Die vier Säulen der Nachhaltigkeit“, welche in diesem Konzern nun Gesetz sind und im Text im einzelnen erläutert werden. Die ersten zwei Säulen kommen noch recht konventionell daher: „Grüne Produkte“ sind die erste Säule, die gehandelten Produkte sollten in der näheren Umgebung produziert worden sein, wenn es irgendwie geht, usw.; „Energie, Klima und Umwelt“ ist die zweite, wobei es vor allem darum geht, dass nach Ladenschluss in der Rewe die Innenbeleuchtung abgedreht wird, was gut ist für die CO2-Bilanz und Stromkosten spart … Geschenkt, diese ersten zwei Säulen! Aber die letzten zwei sind dann tatsächlich doch sehr innovativ und brachten den Nachhaltigkeitsdiskurs nachhaltig weiter. Die „3. Säule der Nachhaltigkeit“ sind bei der Rewe die „Kunden“. Dass ein Konzern seinen Kundenkreis nachhaltig betreuen und zufrieden machen möchte und nicht etwa darauf aus ist, ihn, unter Einsatz von Werbemitteln vielleicht und auf Kosten der Konkurrenz, möglichst noch zu vergrößern, was ja doch nur Gegenwerbung heraufbeschwören müsste, die die Nachhaltigkeit des eigenen Kundenstamms früher oder später auch wieder in Frage stellen würde - das hatten wir von solchen Konzernen bis dahin noch nicht gehört. Und die vierte Säule der Nachhaltigkeit bei der Rewe-Group sind dann noch die „MitarbeiterInnen“ - die in diesem Konzern humanerweise jetzt ebenfalls nachhaltig behandelt, also nicht schneller vernutzt werden, als sie auch wieder nachzuwachsen in der Lage sind. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Oder sehen Sie sich hier diese Annonce an von BRP, einem Hersteller von motorisierten Powersportgeräten, Außenbordmotoren und ähnlichem, der selbstbewusst bekannt gibt, dass er jetzt ebenfalls den Prinzipien der Nachhaltigkeit folgt. Das kann nur bedeuten, dass man beim Kauf der Produkte dieser Firma eine Verordnung mitgeliefert bekommt, nach der man sie höchstens einmal im Jahr in Betrieb nehmen darf, weil ja das zu ihrer Ingangsetzung benötigte Rohöl nur so verdammt langsam auch wieder nachwächst. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Erstaunen wird es Sie vielleicht, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs zwar durch den Brundtland-Report von 1987 und die UN-Entwicklungskonferenz in Rio 1992 in Gang gesetzt wurde, dass aber diese beiden Dokumente sich trotzdem nicht nachhaltig in meiner Sammlung haben halten können. Denn die „nachhaltige Entwicklung“, von der in ihnen im wesentlichen die Rede ist, konnte den Kriterien der Nachhaltigkeit leider nicht nachhaltig entsprechen. Das lässt sich leicht veranschaulichen: Wenn jetzt sämtliche Entwicklungs- und Schwellenländer durch eine sogenannte nachhaltige Entwicklung auf unser Wohlstandsniveau angehoben würden, könnten sie dann ja zum Beispiel als Gleiche unter Gleichen mit uns am Weltmarkt konkurrieren, was ganz zwangsläufig die Chancen der kommenden Generationen in Europa, in Japan und den USA katastrophal schmälern müsste. Nachhaltige Entwicklung, folgt daraus, ist ebenso ein Widerspruch in sich und ein Ding der Unmöglichkeit wie zum Beispiel auch ein nachhaltiges Wachstum, das auch immer entweder zu Lasten anderer geht oder schnell an sonstige Grenzen stoßen wird. Als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler habe ich alle nachhaltige Entwicklung und sämtliches nachhaltiges Wachstum schon lange aus meiner Sammlung exkludiert.

Im Einzelfall ist es ja manchmal wirklich schwer zu entscheiden, ob etwas nachhaltig ist oder nicht. Manchmal ziehe ich dann meine Referenzmaterialien zu Rate. Duftet es verführerisch und leuchtet es rot wie ein frisch gekaufter Strauß roter Rosen? Dann ist es ganz sicher nicht nachhaltig. Oder schaut es eher aus wie ein Brückenpfeiler aus Beton? Beton - da sind sich alle einig - ist schon sehr nachhaltig. Lächelt es uns an wie ein Schneemann in den ersten Strahlen der Frühlingssonne? Dann ist es ganz sicher nicht nachhaltig. Oder strahlt es uns eher an wie die Atomruine von Tschernobyl? Der GAU von Tschernobyl war in den Auswirkungen ganz ohne Zweifel nachhaltig.

Trotzdem ist das natürlich auch oft relativ und subjektiv. Cäsium 137 zum Beispiel strahlt bekanntlich nur noch halb so stark nach 30 Jahren. Für die meisten ist das noch nicht wirklich nachhaltig. Aber beim Plutonium 239 dagegen mit seiner Halbwertszeit von über 24.000 Jahren wird kaum noch jemand widersprechen: Beim Plutonium 239 kann man trotz dieses Strahlungsschwunds, den es ja immer gibt, schon von einer einigermaßen nachhaltigen Nachhaltigkeit ausgehen.

Zurück zum vorigen Text Zurück zur Textliste Weiter zum nächsten Text