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Zur WM 2014 in Brasilien -
das Achtelfinale (Teil 2)

30. Juni 2014

Frankreich - Nigeria 2:0
Deutschland - Algerien 2:1 n.V.


Nürnberger Nachrichten

Zeitunglesen

Im weltpolitischen Teil der Nürnberger Nachrichten fallen zwei Kurzmeldungen ins Auge. Die eine handelt mal wieder von jenem immensen potentiellen Zufluss an Fußballkompetenz nach Europa und indirekt auch vom Wohlstandsgefälle in der heutigen Welt, indem da eine Bilanz gezogen wird nicht der Ertrunkenen, denn die bleiben weiterhin in aller Regel unsichtbar, sondern von den aus dem Mittelmeer Geretteten am vergangenen Wochenende und seit Beginn des Jahres: -

1600 Flüchtlinge gerettet - Die italienische Marine hat am Wochenende rund 1600 Bootsflüchtlinge in Sicherheit gebracht, die über das Mittelmeer Richtung Europa unterwegs waren. Nach amtlichen Angaben wurden sieben Schiffe mit Asylsuchenden aufgegriffen. Damit stieg die Zahl der Flüchtlinge, die in diesem Jahr aus Nordafrika kommend in Italien eintrafen, auf mehr als 60 000. Darunter waren nach Angaben von Kinderschutzorganisationen 9000 Kinder. (afp)

Mit der anderen Kurzmeldung wird der Horror in Nigeria fortgeschrieben. Die schwer geplagten Fußballer Nigerias müssen heute Abend zum Achtelfinalmatch gegen Frankreich antreten. Am Wochenende verhalf sich dort wieder die Religion zu ihrem Recht: -

Dutzende Tote in Nigeria - Bei Angriffen der islamistischen Boko Haram im Nordosten Nigerias sind zahlreiche Menschen getötet worden. Die Zeitung Daily Post sprach von möglicherweise mehr als 100 Toten. Erstes Ziel der Attacken am ersten Tag des islamischen Fastenmonats Ramadan seien fünf Kirchen in Kwada nahe der Stadt Chibok gewesen. Die Islamisten haben demnach vor allem Kirchgänger angegriffen und getötet. (dpa)

Eine Meldung im Lokalteil macht deutlich, dass der Streit um die nationale Beflaggung Nürnbergs zur WM noch keineswegs ausgestanden ist. Er wird vielmehr mit ziemlich harten Bandagen ausgetragen: -

NN-Illustration

Die relativ schlichte Original-Illustration in den
Nürnberger Nachrichten zur folgenden Meldung.

Schlägerei nach Flaggen-Diebstahl - Sie stahlen zwei Flaggen, prügelten sich mit den Bestohlenen und später auch mit der Polizei. Gegen zwei 24-jährige Nürnberger laufen nun mehrere Ermittlungsverfahren. Gegen 5 Uhr am Samstagmorgen klauten die beiden in der Denisstraße eine Deutschland- und eine Griechenlandflagge. Doch die Besitzer beobachteten die jungen Männer, verfolgten sie - und wurden prompt von den Dieben verprügelt. Die flüchteten nach der Auseinandersetzung, wurden von der Polizei aber in der Veit-Stoß-Anlage in Gostenhof entdeckt, als sie auf die Deutschlandfahne urinierten. Bei der Festnahme kam es zu einem heftigen Gerangel, bei dem zwei Beamte verletzt wurden. Einer der Polizisten verlor nach Kopfstößen seine Schneidezähne. Die beiden Beschuldigten wurden anschließend zur Dienststelle gebracht und dort ausgenüchtert. (nn)

NN-Illustration Nr.2

Die Originalillustration zum vorstehenden Artikel,
geringfügig bearbeitet.

Im Sportteil finden sich zwei Hintergrundartikel zu dem Achtelfinale der Deutschen heute Abend gegen Algerien.

Der erste erinnert noch einmal an Gijón 1982. Jeder in Algerien, heißt es da, wisse vor dem heutigen Spiel gegen Deutschland, wie es damals gelaufen ist. Und wenn es den Algeriern heute gelingen würde, sich für den damaligen Betrug zu revanchieren, heißt es weiter, könnten sie in der nächsten Runde auch noch mit ungleich brisanterer Landeshistorie konfrontiert werden: Im Viertelfinale würden sie dann eventuell auf auf die frühere Kolonialmacht Frankreich treffen.

In dem anderen Hintergrundbericht im Sportteil geht es noch einmal um Religion. Aus aktuellem Anlass - denn heute beginnt der Ramadan - hat eine Nachrichtenagentur eine Gretchenumfrage unter den moslemischen Spielern und ihren Trainern veranstaltet: Werden sie jetzt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang nichts essen und nicht trinken, so wie es die Religion gebietet?

„Ich kann da leider nicht mitmachen, weil ich arbeite. Das kommt für mich leider nicht infrage“, ist die Antwort des Deutschen Mehsut Özil. Auch der Franzose Benzema, der Schweizer Shaqiri, die Belgier Fellaini und Dembele und das komplette algerische Team sind Moslems und noch weiterhin im Turnier und wurden zum Ramadan befragt.

Ein paar wenige Spieler antworten ähnlich wie Özil, aber die meisten wollen sich nicht öffentlich dazu äußern. Algeriens Trainer Halilhodzic hat es seinen Spielern ausdrücklich geraten, auf die Frage nicht zu antworten. Denn Religion sei Privatsache und hätte mit dem Sport nichts zu tun.

Ein anderer Trainer kommt mit der Aussage zu Wort, er stelle es seinen moslemischen Spielern frei, ob sie dem Fastengebot folgen wollten oder nicht. Dieses ist hübsch tolerant gemeint, aber natürlich trotzdem vollkommener Unsinn. Denn erstens ist es unvereinbar mit der Aufgabe eines Trainers und zweitens wäre es auch unverantwortlich gegenüber dem Spieler, ihn in der brasilianischen Hitze auf das Feld zu schicken, solange er es ablehnt, zu trinken. Und drittens sollte ein Trainer dieser Preisklasse schon auch wissen, dass es da seit langem ein pragmatisch angepasstes Regelwerk gibt, von allerhöchsten islamischen Rechtsgelehrten abgesegnet, auf dass die Moslems auch im heiligen Monat Ramadan die Möglichkeit haben sollen, im Wettbewerb mit Ungläubigen konkurrenzfähig mitzutun. Und also besagt diese Fatwah: Wer hart arbeiten muss, ist nicht unbedingt an das Fastengebot gebunden. Wer sich auf Reisen befindet, ebenfalls nicht. Beides trifft auf die WM-Spieler ja wohl eindeutig zu.

Entsprechend werden sie es höchstwahrscheinlich alle so halten wie Özil, ob sie sich nun öffentlich dazu äußern oder nicht. Sie müssten dann aber, schreibt die Lehre weiter vor, die ausgefallenen Fastentage später noch nachholen. An dem Nachsatz zeigt sich die religionstypische Doppelmoral. Denn der Spieler muss erst noch erschaffen werden, der nach der WM, in der kurzen reise- und fußball-, fernsehtermin- und autogrammkartenfreien Zeit bis zum Beginn der nächsten Saison die versäumten Ramadantage dann noch nachholt, während um ihn herum bereits alle wieder essen und trinken.

Unglückliches Nigeria

Der Kommentator nennt das nigerianische Angriffsspiel „unkonventionell“. Vielen Aktionen ist anzumerken, dass die Afrikameister mehr drauf haben, als sie heute zu zeigen in der Lage sind. Die Ballbehandlung, die Ballbehauptung im Mittelfeld sind technisch famos, die Stürmer rotieren wie die Wilden, aber oft rotieren sie ins Leere. Man sieht es: Sie wollen. Aber es fehlt ihnen der Spaß am Spiel. Es fehlt die Lockerheit.

Vom ersten Tag der WM an gab es den brutalen Terror in Nigeria, speziell auch gegen Leute, die sich zum Fußballschauen versammelten. Dann starb auch noch ein Bruder zweier Spieler. Trotzdem bleiben, trotzdem den Leuten daheim mit Fußball ein wenig Freude in den Alltag bringen zu wollen, die Konfessionsgrenzen überwindend - es ist so ungeheuer schwer. Man sieht das Bemühen.

Die Nigerianer haben Vorteile. Sie kreieren auch Chancen. Ein Tor fällt aus äußerst knapper Abseitsposition, ein reguläres wird ihnen in dem Spiel nicht gelingen.

Wenn Frankreich selten auch zu Chancen kommt, kann sich Nigerias Keeper Enyeama auszeichnen. Fast meldet er sich auch schon an für die Liste der vielen guten Keeper bei dieser WM. Aber zehn Minuten vor Schluss kommt es zu den entscheidenden Szenen. 77. Minute: Der Franzose Cabaye trifft die Querstange. 78. Minute: Mit einem Blitzreflex pariert Enyeama den Kopfball Benzemas, einer seiner Vorderleute klärt zur Ecke. 79. Minute: Beim Eckball unterläuft ihm dann der einzige kleine Fehler im Turnier und er führt auch gleich - es passt ins Bild - zum entscheidenden 0:1. Seine Faustabwehr ist ihm zu kurz geraten und der Ball fällt Pogba genau auf den Kopf und von da über Torwart und das Strafraumgetümmel hinweg ins lange obere Eck.

Auch in den letzten zehn Minuten kann Nigeria Frankreich nicht mehr ernsthaft in Torgefahr bringen. Das unglückliche Eigentor Yobos zum 0:2 in der zweiten Minute der Nachspielzeit setzt dem Ausscheiden Nigerias bei der von Anfang an unglücklichen WM nur noch die Krone auf.

Die Wiedergeburt des Liberos

Rekordverdächtige sieben Bayernprofis stehen auf dem Platz. Aber ihr Spiel sieht aus, als hätten sie noch nie zusammen gespielt. Die Spieleröffnung der Deutschen liefert Algerien mit haarsträubenden Fehlern gleich serienweise gute Chancen auf dem Silbertablett. Die deutsche Verteidigung wirkt wie ein konfuser Hühnerhaufen. Wieder und wieder gelingt den Algeriern der Pass in die Schnittstelle der Abwehr. Wiederholt muss Torwart Neuer mit halsbrecherischen Ausflügen nach weit außerhalb des Strafraums, um mit einer riskanten Grätsche, mit Kopfbällen, im letzten Moment mit dem starken rechten oder im allerletzten mit seinem schwächeren linken Fuß vor den anstürmenden Algeriern zu retten. Der Reporter spricht schon von einer Wiedergeburt des Liberos.

Sieht so ein Libero aus?

Sieht so ein Libero aus?

Wenn man den Libero versteht als „letzten Mann hinter der Abwehr“, dann ist Manuel Neuer heute in der Tat ein Libero. Aber ein „freier Mann“ ist er bei den waghalsigen Ausflügen natürlich keineswegs. Entsprechend schimpft er auf die Vorderleute. Jedenfalls schreibt sich Neuer heute definitiv ein in das Best-of der WM-Torhüter.

Wegen Hummels' Verletzung hatte der Trainer Löw die deutsche Abwehr umstellen müssen. Aber er nahm trotzdem nicht die Gelegenheit beim Schopf, wie von seinen Kritikern schon länger gefordert, Philipp Lahm aus dem Mittelfeld zurückzubeordern an seine bei den Bayern gewohnte rechte Verteidigerposition. Mit dem sturen Festhalten an seinem Konzept spielt Löw heute ein riskantes Spiel. Mustafi an der rechten Verteidigerseite ist chronisch überfordert und die meiste Gefahr kommt von seiner Seite. Erst als sich Mustafi zwanzig Minuten vor Schluss verletzt und ausgewechselt werden muss, wird Lahm an die gewohnte Position zurück versetzt. Aber so spät im Spiel kann er dann auch keine Sicherheit mehr in die Abwehr bringen.

Unsicherheiten in der Abwehr also, Fehler im Spielaufbau, kaum Kreatives im Mittelfeld. Die rotierenden Spitzen sind meistens abgemeldet, und bei den wenigen deutschen Chancen steht mit M'Bolhi ein ausgezeichneter Tormann auch auf der Gegenseite. Die Deutschen sind nahe daran, auszuscheiden, und nur durch Neuers fünf aufsehenerregende Ausflüge steht es nach 90 Minuten noch 0:0. Es gibt wieder eine Verlängerung.

Zwei Minuten nach Wiederanpfiff erzielt mit Schürrle wieder ein Einwechselspieler das 1:0. Die weiterhin unsichere Abwehr der Deutschen sorgt für Dramatik bis zum Schluss. Erst in der letzten Minute der Verlängerung erzielt Özil das 2:0. Ein weiterer Fehler in der deutschen Abwehr bringt noch den algerischen Anschlusstreffer, allerdings kommt er zu spät, erst in der Nachspielzeit der Verlängerung. Zum ersten Mal stand heute Algerien in einem WM-Achtelfinale. Im Viertelfinale treffen die Deutschen jetzt auf die Franzosen.

Eine Randbemerkung noch zum Schluss: Die FIFA wünscht erklärtermaßen keine religiösen Bekundungen auf dem Spielfeld. Sie hat auch die Bildregie angewiesen, wenn da zu Beginn des Spiels ein Kreuz am Kettchen unter dem Trikot herausgefischt wird, um als Kusspartner herzuhalten, oder wenn moslemische Spieler den grünen Rasen zum Gebetsteppich umfunktionieren, dass dann ebenso reagiert wird wie etwa auch bei den „Flitzern“, die es immer wieder mal schaffen, nackt aufs Spielfeld zu gelangen und für kurze Spielunterbrechungen zu sorgen: Der Regisseur soll dann umschalten auf eine andere Kamera. Die religiösen Bezeugungen sollen (wie die Genitalien der Flitzer) Privatsache bleiben und im Fernsehen nicht gezeigt werden. Das gelingt natürlich nicht immer. Wenn beim Torjubel zuerst einmal dem allerhöchsten Fernsehzuschauer gedankt wird, kann man nicht immer gleich auf einen zerknirschten Torwart umschneiden. Und die Bekreuzigungen vor Standardsituationen und bei Ein- und Auswechselungen sind Legion. Man erkennt aber das laizistische Bemühen der Regie, und man muss den Ansatz loben. Es wird da oft sehr reaktionsschnell umgeschnitten auf unreligiöse Bilder, auf bunt bemalte Gesichter im Publikum beispielsweise vor dem Hintergrund wogender Fahnenmeere in den gleichen Farben.

Was andererseits nun den Ramadan angeht, so sah man heute bei den Nahaufnahmen algerischer Spieler keine vom Durst zerfrästen rissigen Lippen. Sie werden alle von der Ausnahmeregelung für Schwerarbeiter und Reisende Gebrauch gemacht haben. Sie sind gerannt bis zum Schluss, wieselflinke „Wüstenfüchse“, hundertzwanzig heiße Minuten lang. So dürften sie auch während des Spiels wohl noch getrunken haben. Dieses wurde nun aber ebenfalls von der Bildregie nicht gezeigt. Sonst sieht man das sehr wohl immer mal wieder, dass Spieler bei Verletzungs- und anderen Spielunterbrechungen kurz einmal zur Wasserflasche greifen. Heute aber: nichts davon. Wie gerne hätten wir heute auch einmal einen pragmatischen Moslem oder besser noch einen mit Gewissensbissen verstohlen zur Wasserflasche greifen sehen! Manchmal geht die Religionsfreiheit im FIFA-Fernsehen schon auch zu weit.

Rasenknicks

Ein Rasenknicks.
(Genutzt hat's nix.)

01. Juli 2014

Argentinien - Schweiz 1:0 n.V.
Belgien - USA 2:1 n.V.


Netzwerkanalyse

Es ist ein zähes Ringen. Keiner Seite gelingt es, entscheidende Impulse zu setzen. Einstweilen haben die Schweizer Messi gut im Griff. Mit ihrer variablen Raumdeckung gelingt es, ihn immer schnell zu doppeln oder zu trippeln und seine Kreise spürbar einzuschränken. Dadurch haben zwar Di Maria auf der Linksaußenposition und Mascherano, aus dem defensiven Mittelfeld kommend, mehr Platz, und sie können auch tatsächlich Akzente setzen. Aber beim letzten Pass vors Tor stehen die Schweizer dann immer recht gut. Wird es bis zum Ende so bleiben? Zweimal schon hat Messi bei dieser WM durch einen einzigen Geistesblitz ein Spiel für Argentinien entscheiden können.

Auf der anderen Seite agiert der Schweizer Kapitän und Spielmacher Shaqiri mit breiter Brust. Im letzten Gruppenspiel gegen Honduras hatte er alle drei Tore erzielt. Er hat gute Ideen, sucht auch aus der Distanz gelegentlich den Abschluss. Aber auch die argentinische Abwehr steht sicher und verhindert das Entstehen guter Chancen. So zieht sich das Spiel hin. Da ist bei den Spielern auf dem Rasen und beim Publikum Geduld gefragt.

Das zähe Ringen rund um Messi und um kleinste, möglicherweise spielentscheidende Vorteile könnte, kommt mir in den Sinn, ein höchst lohnendes Objekt abgeben für eine der sogenannten Netzwerkanalysen im Standard. Die Netzwerkanalytiker, stelle ich mir vor, sitzen jetzt zuhause in Wien in der Standard-Redaktion vor dem Fernseher und arbeiten an ihrer Netzwerkanalyse …

Einer im Team ist gelernter Radioreporter. Er kommentiert ohne Unterlass: „Higuain zu Messi. Bedrängt von Inler und Behrami. Rückpass, erfolgreich, auf Mascherano. Zweikampf mit Shaqiri. Rückpass, erfolgreich, auf Zabaleta. Pass erfolgreich, nach vorne auf Lavezzi. Bedrängt von Shaqiri und Inler. Fehlpass ins Seitenaus.“ Der Zweite führt die Statistik und sitzt mit dem Klemmbrett auf dem Schoß neben ihm. Für jeden Ballkontakt und angekommenen oder misslungenen Pass macht er einen Strich hinter dem entsprechenden Spieler. Der Dritte ist für die Interaktionen zuständig: Er führt Buch, welcher Mitspieler angespielt wurde oder hätte angespielt werden sollen, sowie über die Zweikämpfe, und wer als Sieger daraus hervorgeht. „Unbedrängt ins Seitenaus?“, fragt er gerade noch einmal nach. „Bedrängt“, korrigiert der Reporter, und fährt fort: „Einwurf Rodriguez auf Mehmedi. Einwurf kommt an. Zweikampf mit Fernandez. Einwurf Rot.“ So gehen sie während des ganzen Spiels hochkonzentriert zu Werke. Auch bei Auswechselungen gibt es keine Ruhepause. Der alte Spieler muss vom Clipboard entfernt, der neue dort aufgelistet werden. Nur vor Freistößen und Eckbällen gibt es kurze Gelegenheiten, in die Schale mit den Kartoffelchips zu greifen. Und längere Verschnaufpausen, um auch mal auf die Toilette gehen zu können, gibt es nur, wenn ein Tor bejubelt wird. Aber in dem Spiel heute wird erst in der 118. Minute ein Tor bejubelt …

Das Bild ist natürlich ganz naiv und falsch gezeichnet. Die Netzwerkanalytiker müssen sich ihr statistisches Material heute nicht mehr händisch zusammentragen. Es wird für alle WM-Spiele vollautomatisch erstellt. Die einschlägige Software läuft bei jedem WM-Spiel mit.

Deutlich wird das zum Beispiel bei den Auswechselungen, wenn da per Insert immer auch die Laufleistung des vom Feld genommenen Spielers angegeben wird, in Kilometern, und auch im Verhältnis zur durchschnittlichen Laufleistung seiner Mannschaftskollegen. Spätestens hier wird deutlich, dass heute parallel zu den nur selektiven Bildern im Fernsehen im Hintergrund immer auch eine Totale des Spielfelds aufgezeichnet wird, in der alle Spieler elektronisch verfolgt und ihre Laufwege registriert werden. Die Software stammt aus der Videospieltechnik. Sie kommt auch zum Einsatz, wenn nach einem Spiel eine strittige Entscheidung noch einmal analysiert wird. Eine virtuelle Kamera schwebt dann über den Platz hinweg, oder auch zwischen den Spielern hindurch, und es wird deutlich, dass man sich heute sämtliche Vorgänge auf dem Platz aus beinahe jeder gewünschten Position virtuell noch einmal anschauen kann.

Das heute aufgezeichnete Material wird auch beim Update der Fußballvideospiele Verwendung finden. Es wird genutzt, um die Avatare zu individualisieren, indem sie mit den typischen Bewegungsabläufen der heutigen Stars ausgestattet werden. Auch die Laufwege der computergenerierten Mannschaften als Ganze werden ständig mit realen Fußballspielen abgeglichen und auf den neuesten Stand gebracht.

Die Wechselwirkung zwischen realen Fußballspielen und der Weiterentwicklung der Software findet auch in der anderen Richtung statt: Die immer komplexer und realitätsnäher werdende Software kommt heute oft auch schon im realen Fußballerleben bei der gemeinsamen Analyse der nächsten Gegner zum Einsatz.

Aber genug jetzt davon. Zurück zum Spiel. Es ist ein zähes Ringen. Prickelnde Torszenen sind Mangelware. Auch nach dem Ende der zweiten Halbzeit steht es noch 0:0. In diesem siebten der acht Achtelfinals kommt es bereits zum vierten Mal zu einer Verlängerung. - - -

Zwei Tage später. Den weiteren Spielbericht habe ich wieder entfernt. Die Netzwerkanalytiker des Standard haben sich tatsächlich dieses Spiel zum Forschungsgegenstand erkoren. Zwei Tage brauchten sie für ihre „Netzwerkanalyse“. Jetzt ist das Ding da.

In einer Grafik scheinen die Spieler als Kugeln auf, die umso größer dargestellt werden, je öfter sie am Ball waren. Die Pfeile zwischen den Spielern werden je nach der Passhäufigkeit dünner oder dicker dargestellt. Dieses ergibt dann also die „Netzwerkgrafik“.

Netzwerkanalyse

Weiteres statistisches Material findet sich in den Tabellen daneben. Die „Schlüsselspieler“ sind da zum Beispiel aufgelistet, nach der Anzahl der Ballkontakte. Mascherano ist der argentinische Schlüsselspieler. Er war 166-mal am Ball. Messi befindet sich in dieser Kategorie mit 127 Ballkontakten auf Platz 6. Auf der Schweizer Seite liegt der Spielmacher Shaqiri mit 133 Ballkontakten an der Spitze. In einer weiteren Tabelle sehen wir zum Beispiel, dass die Quote der erfolgreich gespielten Pässe bei den meisten Argentiniern um die 90 Prozent liegt, bei den Schweizern eher um die 80. Eine zweite Grafik zeigt uns das „Zweikampfnetzwerk“.

So lässt sich aus dem statistischen Material so manches herauslesen über das Spiel. Aber am schönsten ist es dann doch, dass sich da auch noch ein wirklicher Mensch für uns in den Zahlendschungel begeben hat, und wie also Helmut Neundlinger hier für uns die Kugeln, Pfeile, Namen und Zahlen interpretiert: -

Die Strukturanalyse der Partie dokumentiert eine auf asymetrischen Spielanlagen beruhende gegenseitige Neutralisierung. Auf beiden Seiten erhielt die Verhinderung gegnerischer Entfaltung über weite Strecken den Vorzug gegenüber dem Bemühen um Lösungen.

Deutlich zu unterscheiden waren die Teams jedoch an ihren Strategien. Argentinien praktizierte Dominanz über Ballbesitz und intensive Binnenzirkulation, was sich an den ausgeprägten Beziehungsstrukturen in der Viererkette und im zentralen Mittelfeld erkennen lässt. Die Schweizer suchten ihr Heil in einer profunden Absicherung des potentiellen Gefahrenherdes namens Messi und in einer generell lauernden Spielanlage, die in Behrami den Mann fürs Grobe (siehe Zweikampfnetzwerk), in dem an diesem Abend oft indisponierten Inler die Umschaltstelle und in Shaqiri den geradezu manisch irrlichternden Zauberlehrling fand.

Offensiv fanden die Schweizer bei weitem nicht jene Räume zur spielerischen Entfaltung vor, wie sie etwa die deutsche Defensive tags zuvor den Algeriern gewährte. Trotz durchaus vergleichbarer kämpferischer Intensität unterschied sich die Begegnung zwischen Argentinien und Schweiz vom bisher vielleicht spektakulärsten Schlagabtausch der WM durch konsequente Ereignisarmut vor den jeweiligen Strafräumen.

Das viel beschworene Phänomen Messi lässt sich netzwerkanalytisch als eine Art „anwesende Abwesenheit“ fassen. Denn auch in jenen Spielzügen, an denen er nicht partizipierte, schien er zumindest in den Köpfen seiner Mitspieler als Option stets präsent zu sein. Im Spielaufbau ergab sich dadurch ein paradoxes Szenario - so als würde das Team gleichzeitig immer mit einem Mann mehr und einem weniger agieren. Kompensiert wurde dieses numerische Dauerprekariat durch einen um solide Verknüpfung von Breite und Tiefe bemühten Spielaufbau. Mascherano und Gago teilten sich diesbezüglich die Agenden an den zentralen Schaltstellen, während der offensiv orientierte Außenverteidiger Rojo und der auf den Flanken aktive Flügelstürmer Di Maria für vertikale Impulse sorgten.

Netzwerkanalyse

Da bleibt nur noch anzumerken: Durch ein Tor von Di Maria in der vorletzten Minute der Verlängerung gewannen die Argentinier dieses zäh verlaufene Achtelfinale gegen die Schweizer mit 1:0.

Das Achtelfinale ist komplett

Wieder gibt es eine Verlängerung. Es ist schon die fünfte im achten Achtelfinalspiel. Das ist definitiv ein neuer Trend. Bei den letzten Weltmeisterschaften war immer nur eine einzige Verlängerung in den Achtelfinals nötig gewesen. Ist die Weltspitze enger zusammen gerückt?

Weitere Trends setzen sich in der Begegnung zwischen Belgien und den USA fort. Bitte nehmen Sie sich einen Stift zur Hand und schreiben Sie mit, damit Sie es Ihren Enkeln dereinst erzählen können, sollten die Sie danach fragen. Sollten Sie keine Kinder in die Welt gesetzt haben, können Sie es sich natürlich sparen. Aber sobald einmal ein Nachwuchs in der Welt ist, hat man es ja kaum noch in der Hand, ob es auch Enkel geben wird, und noch weniger, wie diese geraten werden und ob sie sich vielleicht, dem Kleinkindalter entwachsen, für die Zwischenbilanzen früherer fußballerischer Großereignisse interessieren werden. Ein gewisser Prozentsatz unserer dereinstigen Enkelgeneration wird sich gewiss noch ebenso für diese Fakten interessieren wie die heutige Generation, sei es aus eskapistischer Lust an unnützen Zahlen und Daten, oder sei es auch, weil manche in dieser Generation natürlich auch bei der FIFA oder sonstwo im Fußballgeschäft angestellt sein werden und sie dann selbstredend für ihre Entscheidungen auch eine solide Datenbasis brauchen. Schreiben Sie also lieber mit!

Es sind auch weiterhin viele Tore gefallen bei dieser WM. Die Torquote ist zwar seit der Vorrunde ein wenig gesunken, aber mit 154 Toren, was einer Quote von 2,75 Toren pro Spiel entspricht, ist sie noch immer die zweithöchste aller Zeiten. (Und das letzte Achtelfinale zwischen Belgien und den USA war also in dieser Hinsicht wieder ziemlich repräsentativ.)

Was einigermaßen erstaunt, ist, dass die hohe Torquote zustande kam trotz der vielen ausgezeichneten Torhüterleistungen. Der US-Goalie Tim Howard konnte heute sechzehn Schüsse auf sein Tor parieren und wurde zum „Man of the Match“ gewählt. Er war bereits der vierte Goalie, dem dieses in den Achtelfinalspielen gelang. Insgesamt wurden im Turnier schon neunmal Torhüter zum „Man of the Match“ gewählt.

Ein weiterer deutlicher Trend: Erneut kamen heute wieder zwei Einwechselspieler zu Torerfolgen. Es waren die „Jokertore“ Nr. 28 und 29 bei dieser WM. Der bisherige Rekord von 23 bis ins Endspiel ist damit schon deutlich übertroffen. Ob da tatsächlich lauter „glückliche Trainerhändchen“ dahinter standen, oder ob das Phänomen nicht vielmehr aus der hohen Spielintensität resultiert, kombiniert mit dem heißen brasilianischen Klima, was es den frisch Eingewechselten dann relativ leicht macht, zwischen all den tendentiell schon dehydrierten Gegnern zu glänzen - das wurde schon ausführlich diskutiert.

Was jetzt die „Kontinentalwertung“ angeht bis nach dem Achtelfinale, so haben die Europäer dem Klima nicht in dem Ausmaß Tribut zollen müssen, wie es vorhergesagt worden war. Mit vier Teams im Viertelfinale haben die Europäer sogar die Führung vor den drei südamerikanischen Teams übernehmen können. Vor vier Jahren in Südafrika hatte noch der südamerikanische Verband mit vier Viertelfinalisten die Nase vorn. Aber das sind letztlich Schwankungen in Nuancen. Mit Costa Rica konnte auf der anderen Seite zum ersten Mal überhaupt auch ein zentralamerikanisches Land ins Viertelfinale aufsteigen.

Und es hat sich damit eingereiht wie jetzt auch noch die Belgier in eine erstmals erreichte Quote von satten 100 Prozent, mit der bei dieser WM alle acht Vorgruppensieger in den Achtelfinals über die mitqualifizierten Vorgruppenzweiten triumphieren konnten. Überraschende Resultate wie in den Gruppenspielen gab es im Achtelfinale also keine mehr.

Haben Sie das alles mitgeschrieben? Es könnte sein, Ihr Enkel wird dereinst bei der FIFA über die Vergabe einer Fußballweltmeisterschaft an ein Schwellenland zuständig sein. Die sogenannten „Weißen Elefanten“ in Südafrika und Brasilien vor Augen, Überreste von den einstigen fußballerischen Großereignissen im Land: die riesigen Stadionruinen, die sich die Natur schon wird zurückerobert haben, weil sie in Gegenden errichtet wurden, wo es nicht einmal in der dritten Spielklasse und manchmal auch überhaupt keinen regelmäßigen Fußballbetrieb gibt - diese „Weißen Elefanten“ vor Augen wird Ihnen Ihr bei der FIFA beschäftigter Enkel an den Lippen kleben, wenn Sie ihm erzählen, dass 2014 sämtliche Vorgruppensieger auch ihre Achtelfinalspiele gewonnen haben, und er könnte dadurch für sich zu dem Schluss kommen: Man muss einem relativ armen Ausrichterland nicht gar so viele teure und für die Zukunft ganz unnütze Stadionneubauten auferlegen. Auch 2014 in Brasilien hätte man schon, ohne dass sich am WM-Resultat das geringste geändert hätte, die acht Achtelfinalspiele einfach streichen, sich damit acht Spiele ersparen und die Vorgruppensieger auch gleich direkt ins Viertelfinale aufsteigen lassen können.

02. / 03. Juli 2014

Zwei spielfreie Tage

Es folgen zwei spielfreie Tage. Das gab's schon lange nicht mehr. Ich werde sie zur Heimreise nach Wien nutzen, und um mich über die allgemeine Nachrichtenlage auf den neuesten Stand zu bringen. An den Spieltagen kommt man ja kaum dazu. Und auch in Bezug auf die WM ist das sehr wichtig, nachdem ja alles mit allem irgendwie zusammen hängt.

In Argentinien, lese ich, droht neuerlich ein Staatsbankrott. Ein amerikanisches Gericht hat den Hedgefonds, die sich am einstigen Schuldenschnitt nicht beteiligt haben, ein Recht auf volle Rückzahlung der Schulden eingeräumt, wodurch die Vereinbarungen des argentinischen Staates mit den kompromissbereiteren Gäubigern und sein Finanzmanagement nach der letzten Pleite komplett in Frage gestellt werden.

Die alternde Ikone Maradona hat sich zu Wort gemeldet und die einseitige taktische Ausrichtung des argentinischen Teams kritisiert mit den Worten: „Wir dürfen nicht nur der FC Messi sein.“

Die drei im Westjordanland entführten israelischen Jugendlichen sind erschossen aufgefunden worden. Seit ihrem Verschwinden hatte es zahlreiche Razzien gegeben und 420 Palästinenser waren dabei festgenommen worden. In Israel wird jetzt ein harter Gegenschlag gegen die Hamas gefordert. Militante Siedler verübten einen Racheakt und töteten ihrerseits einen palästinensischen Jugendlichen. Die Hamas und andere dschihadistische Gruppen im Gazastreifen begannen daraufhin mit einem Raketendauerfeuer auf israelische Dörfer und Städte. Die israelische Armee berief Reservisten ein und hat Einheiten an die Grenze zum Gazastreifen verlegt. Stellungen der Hamas wurden von der israelischen Luftwaffe bombardiert.

Der spanische Trainer Del Bosque, 63, wird auch nach dem schnellen Ausscheiden seines Teams weitermachen. Ein Neuanfang sei nötig, auch weil viele langjährige spanische Leistungsträger ihren Abschied aus dem Nationalteam verkündet hätten. Del Bosque steht für den Neuanfang zur Verfügung.

Auf einem manövrierunfähig im Mittelmeer treibenden Schiff sind 30 Flüchtlinge gestorben. Die 27 Überlebenden auf einem weiteren Schiff berichten von 75 Menschen, die dort anfangs an Bord gewesen seien und jetzt vermisst würden. Die italienische Marine hat allein am vergangenen Wochenende 5000 Migranten aus dem Meer gefischt. Wieviele in der gleichen Zeit ertrunken sind, ist nicht bekannt.

Andrea Pirlo, 35, der italienische Spielmacher, würde auch nach dem Vorrundenaus bei der WM seinem Nationalteam weiter zur Verfügung stehen.

Der ukrainische Präsident Poroschenko und der russische Präsident Putin als Doyen der Separatisten in der Ost-Ukraine sowie Angela Merkel und Francois Hollande als Vermittler verhandeln in Minsk über eine Feuerpause unter OSZE-Überwachung. Mit der Offensive der letzten Tage konnte das ukrainische Militär einige strategisch wichtige Orte von den Separatisten zurückerobern, aber es gab dabei auch wieder viele Tote unter der Zivilbevölkerung.

Nico Kovac, 44, Trainer des kroatischen Teams, würde auch nach dessen Ausscheiden in der Vorrunde bis zur nächsten EM weitermachen.

Die islamistische IS hat in den von ihr eroberten Gebieten im Irak und in Syrien ein sogenanntes Kalifat ausgerufen. Sie hat jetzt auch das syrische al-Omar-Ölfeld unter Kontrolle und verbreitet mit Massenhinrichtungen, die sie zum Teil auch ins Netz stellt, mit Vergewaltigungen und der Verschleppung von Frauen Angst und Schrecken. Der irakische Staat ringt weiterhin um eine Gegenstrategie gegen die sunnitischen Extremisten. Schiitische Milizen sind im Einsatz. Nur die kurdischen Peschmerga im Norden des Landes scheinen dem IS im Moment noch effektiv etwas entgegensetzen zu können.

Eine Mehrzahl der befragten Trainer und Spieler ist der Meinung, dass sich der Rasierschaum, mit dem die Schiedsrichter den Mindestabstand der Abwehrspieler vom Freistoßpunkt auf dem Spielfeld markieren, bewährt hätte und dass er auch in den Ligaalltag Eingang finden sollte.

Die Ebolaepidemie in Westafrika ist außer Kontrolle. In Liberia, Sierra Leone und Guinea gab es bereits mehrere hundert Tote. Die Ärzte und Krankenhäuser sind völlig überfordert. Es gibt kein Medikament gegen die Seuche, die in etwa 50 Prozent der Fälle tödlich verläuft. Es droht eine Ausbreitung in weitere Länder. Bei einem Krisentreffen der Weltgesundheitsorganisation WHO in Ghana wurde ein größeres Engagement der internationalen Gemeinschaft eingefordert.

Der französische Fußballverband hat den verletzten Franck Ribéry zum anstehenden Viertelfinalspiel gegen die Deutschen eingeladen und würde den Flug finanzieren. Aber der Bayernstar zieht es vor, seinen wohlverdienten Urlaub und seine Wiedergenesung in Ibiza nicht zu unterbrechen.

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